Es dauerte eine Weile, bis die Verbindung stand, doch dann sahen Selina, Janna und ich endlich in die etwas verpixelten Gesichter von Jenny und Matthias, - zwei Langzeitmissionaren von Diospi Suyana. Im Hintergrund turnte ihr Sohn Janne herum, während Lina, die bei meiner Abreise erst wenige Monate alt gewesen war, in den vergangenen Wochen täglich mindestens einen Zentimeter in die Höhe geschossen zu sein schien. Beide wirkten gesund und optimistisch und je länger wir sie mit Fragen über das Leben und den Alltag in Curahuasi bestürmten, desto präsenter wurde die Sehnsucht in mir, die ich immer noch verspürte, seit wir so überstürzt hatten abreisen müssen.
Das Gefühl war seltener geworden, das ja. Es zerriss mich nicht mehr so stark wie in den Anfangsmonaten, war nicht mehr so allumfassend und allgegenwärtig und zerrte nicht mehr so stark an meinem Herzen, dass ich den Eindruck hatte, sofort in das nächste Flugzeug steigen zu müssen, wenn ich nur irgendwie wieder heil werden wollte. Doch manchmal – wenn ich beispielsweise eine Straße entlangging und mir der Duft von Koriander in die Nase wehte, oder irgendwo lautes Hundegebell ertönte und mir die Sonne besonders hell in die Augen stach… – dann kamen oft unwillkürlich längst verdrängte Gedanken wieder hoch und versetzten mich kurz an diesen Ort zurück, an dem man vergaß, dass so etwas wie Deutschland überhaupt existieren konnte.
Und eben andersherum…
Dass Janna und Selina es geschafft hatten, mich zu besuchen, ließ die Zeit in Peru ebenfalls wieder realer erscheinen: Über ein Jahr war es nun her, dass wir gemeinsam in einer WG gelebt hatten und doch fühlte es sich wieder so vertraut an, dass ich sie am liebsten gebeten hätte, nach Marburg zu ziehen. Trotz all unserer Unterschiede waren wir mehr als Mitbewohnerinnen gewesen und im Laufe der Zeit zu echten Freundinnen und irgendwie auch Schwestern im Glauben geworden. Es war ein großer Trost, dass ich nicht alle Menschen, die ich vor Ort kennengelernt hatte, auf der anderen Seite des Globus hatte zurücklassen müssen.
„Hier ist das Leben eigentlich gerade wieder ziemlich entspannt.“, riss mich Matthias aus meinen Gedanken. „Kommt doch einfach nochmal vorbei. Momentan muss man nach der Einreise noch nicht einmal in Quarantäne.“
Das ließ mich hellhörig werden. „Wie jetzt? Also Reisen sind mittlerweile wieder erlaubt?“
„Ja, klar. Die ersten Touristen kommen mittlerweile wieder.“
Ohne zu zögern griff ich nach meinem Laptop und sog scharf die Luft ein, als ich die Preise sah, die man momentan für Flüge nach Peru bezahlte. 250 Euro pro Langstreckenflug war wirklich nichts im Vergleich zu dem Geld, das man noch vor einem Jahr hatte in die Hand nehmen müssen.
„Oh… Führt mich nicht in Versuchung! Ich meine, eigentlich hätte ich die Zeit, aber…“
„Du wärst auf jeden Fall herzlich willkommen!“, schaltete sich Jenny sofort dazwischen, während Selina und Janna neben mir auf meinem Schlafsofa bedeutungsschwere Blicke wechselten.
„Naja, da muss ich erstmal gucken, wie ich das dann mit der Uni organisieren kann.“, winkte ich ab und zwang mich, den Gedanken vorerst in einer sicheren Ecke meines Kopfes abzulegen, um eventuell später darauf zurückzukommen. Zunächst standen momentan erst einmal andere Dinge an.
Die beiden Mädels verabschieden, zum Beispiel.
Wir beendeten das Gespräch und gingen gemeinsam in die Küche, um vor der Fahrt noch einen Kaffee zu kochen.
„Denkst du echt drüber nach?“, fragte Selina.
„Nein. Ja. Keine Ahnung… Ich weiß es nicht.“ Ich befüllte meine French Press mit Kaffeepulver und seufzte. „Aber eigentlich habe ich diesen Sommer ja auch schon andere Pläne. Insofern ist es vermutlich unrealistisch.“
„Ja, geht mir auch so.“, schaltete sich Janna dazu. „Schade, eigentlich. Wäre schon irgendwie toll gewesen, alle nochmal wiederzusehen.“
„Das wirst du auf jeden Fall noch einmal! Und vielleicht dann auch unter entspannteren Umständen, wenn sich Corona ein bisschen beruhigt hat.“
Bei diesen Worten beließen wir es.
Vorerst.
Denn der Same war gesät…
In den folgenden Wochen ertappte ich mich des Öfteren dabei, wie ich nach Flügen googelte, Bilder von Peru anschaute oder ab und an bereits ein paar „rein hypothetische“ Mails an Dozenten schickte, in denen ich mich nach eventuellen Möglichkeiten erkundigte, Prüfungen zu schieben oder Kurse nachzuholen. Während ich meine Bewerbung für Medizin zusammenstellte, manifestierte sich außerdem der Unfrieden darüber in mir, weiterhin Vollzeit zu studieren, wenn ich doch eigentlich bereits wusste, dass ich mein Studienfach wechseln würde. Sollte ich die Zeit nicht doch lieber für etwas anderes einsetzen? Und wenn ja, - war gerade in Marburg mein Platz oder doch eher an einem völlig anderen Ort? Gab es hier ein Richtig oder Falsch? Am ehesten vermutlich eher ein „Vernünftig“ und ein „Unvernünftig“, beziehungsweise ein „Bequem“ im Gegensatz zu einem „Vertrauensvoll“. Und ganz ehrlich: Wann würde ich das nächste Mal drei Monate am Stück Zeit haben, in denen ich das peruanische Touristenvisum voll auskosten konnte, wenn ich erst einmal mitten im zeitintensiven Medizinstudium steckte?
Und so begann ich zu beten: Um Führung. Weisheit. Gottes Reden. Letzten Endes entschloss ich mich dann einfach dazu, die Reise in Angriff zu nehmen und Gott um geöffnete oder geschlossene Türen zu bitten, sollte ich völlig in eine falsche Richtung rennen.
Ich tat das für mich allein, aber auch oft mit Freunden und Familie und durfte erleben, wie nach und nach immer mehr Türen aufgingen: Selbst, wenn ich meine Chemie-Prüfung nicht schrieb, konnte mir das Praktikum für Medizin angerechnet werden; für die Freizeit, auf der ich abspringen musste, hatte sich von ganz allein bereits eine andere Mitarbeiterin gemeldet, die ebenfalls Lust hatte, meine Aufgabe zu übernehmen; einige Kurse konnte ich vorziehen und selbst mein Bio-Professor war sehr kulant, indem er mir einfach die Hälfte des bisher absolvierten Kurses anrechnete. Selbst meine Mutter, die anfangs große Bedenken geäußert hatte, stand bald immer mehr hinter der Idee ("Nutz die Chance, solange du sie noch hast!") und viele Meetings würden weiterhin online stattfinden, sodass ich im wahrsten Sinne des Wortes nicht völlig aus der Welt wäre. Andererseits wollte ich nicht in die konkrete Planung gehen, bevor ich nicht wenigstens die Rückmeldung aus Peru hatte, dort nützlich mithelfen und arbeiten zu können. Alles stand und fiel also mit der Zusage von Martina und Klaus John, welche ich nach Christians euphorischer Begeisterung noch abwarten musste.
Jedes Mal, wenn ich eine neue Sprachmemo von dem Direktor des Colegios erhielt, in dem ich damals gearbeitet hatte und wieder arbeiten würde, starrte ich oft zunächst eine gefühlte Ewigkeit auf das graue "Play"-Symbol, bevor ich mit klopfendem Herzen auf "Wiedergabe" tippte.
Ein "Nein" wäre einfach gewesen: Enttäuschend zwar im ersten Moment, doch letzten Endes nur ein "aufgeschoben und nicht aufgehoben". Ein "Nein" ersparte mir sämtliche Reisevorbereitungen und Abschiede aus Marburg, es war letzten Endes schlicht und ergreifend bequemer. Ein "Ja" jedoch bedeutete unweigerlich, sich der Angst zu stellen, dass eventuell alles anders geworden war. Dass man dort kaum leben konnte unter Corona-Bedingungen und man sich gegebenenfalls sogar ansteckte, - wahrscheinlicher als hier in Deutschland war das momentan alle Mal.
Tja, und dann bedeutete eine Rückkehr nach Peru natürlich auch, nun endlich die Chance zu haben, mehr über die Quechuas zu lernen, Beziehungen zu vertiefen und nicht Geschafftes nachzuholen. Es beinhaltete die Bereitschaft, Geld, Zeit, Kraft und Leben Gott völlig zu Verfügung zu stellen und vielleicht auch wieder Abstand von dem bequemen, individualistischen Lebensstil zu nehmen, den ich mir in Deutschland als ungebundene Studentin angewöhnt hatte. Tja, eventuell keine 10-12 Wochenstunden Sport mehr, Elena. Kein trinkbares Leitungswasser und keine einigermaßen hundesicheren Straßen in der Nacht, so wie in Marburg.
Aber auch die Sicherheit in Deutschland war nur eine Illusion, an der wir uns festklammerten und es würde gut tun, den Horizont abermals zu weiten und wieder einen Blick dafür zu bekommen, wie wenig selbstverständlich unser hoher Lebensstandard in Deutschland eigentlich war, - wenn… Martina und Klaus einem Besuch meinerseits denn zustimmten. Ich weiß noch, dass ich mitten in einem Connect-Base-Zoom-Meeting saß, als ich die endgültige Zusage erhielt. Dutzende gemischte Gefühle - irgendwo zwischen Ungläubigkeit, Begeisterung, Unsicherheit, Aufregung, Sehnsucht, Vorfreude und Angst - taumelten in meinem Inneren durcheinander und sorgten dafür, dass mir unwillkürlich die Tränen in die Augen traten. Angenehmerweise konnte ich all diese Eindrücke gleich mit der Gruppe teilen und mit den anderen zusammen beten.
Danach wurde es dann immer konkreter. Es folgten Absprachen mit Missionaren vor Ort, ich begann bereits, mentale Packlisten zu schreiben und emotional Abschied von einigen Orten und Leuten zu nehmen. Gebucht hatte ich jedoch immer noch nicht.
Diesen Moment teilte ich tatsächlich erst mit Rafi, Felix und auch Deborah - die spontan auf einen Tee vorbeikam - während ich mich mit den Jungs zum Kochen verabredet hatte.
Den Flug hatte ich bereits herausgesucht, lediglich den „Reservieren & Überweisen“-Button hatte ich noch nicht betätigt.
„Jetzt mach schon.“
„Drück ihn endlich.“
„Worauf wartest du?“
„Elena? BUCH!“
Alle redeten wie wild durcheinander, während ich mir immer noch nicht ganz klar darüber war, ob ich jetzt am 30.06. oder am 1.07. fliegen wollte. Egal, sei’s drum, im Zweifelsfall war jeder Tag, den ich länger bleiben konnte, unendlich kostbar. Und so betätigte ich kurz entschlossen den Link mit der „Flug Buchen“ – Aufschrift. Begeisterungsrufe um mich herum, während mir abwechselnd heiß und kalt wurde. Jetzt hatte ich es also schwarz auf weiß: Aus dem „Eventuell“ war endlich ein „Auf jeden Fall“ geworden.
Felix und ich stießen noch mit Sekt und gefrorenen Himbeeren an, die anderen prosteten sich mit Tee und Wasser zu. So langsam war auch ich euphorisch: Die Tickets waren bezahlt, mein Konto um einiges leerer, aber mein Herz dafür umso voller. Mit den Anfechtungen, die mich erst dann einholten, als ich gegen halb eins längst im Bett lag, hatte ich allerdings nicht gerechnet: Ich war das Sorgenmachen überhaupt nicht mehr gewohnt und so verwirrte es mich umso mehr, mit welcher Wucht die verschiedensten Gefühle und Gedanken mit einem Mal in mir hochstiegen, um mich vom Schlafen abzuhalten.
Ich war doch so zierlich und schmächtig, dachte ich beispielsweise. Was, wenn ich irgendeine schwere Durchfallerkrankung bekam und dadurch gefährlich ins Untergewicht geriet? Wollte ich wirklich in den peruanischen Winter, während es hier gerade so richtig Sommer wurde? Die Spinnen und Straßenhunde hatte ich fast vergessen und überhaupt: Wo würde ich in Curahuasi wohnen? So ganz sicher war sich Christian da wohl noch nicht… Und würde die Zeit reichen, sich noch impfen zu lassen? Corona würde ich nicht mehr schaffen, aber es gab ja auch noch andere Erkrankungen, die bedacht werden wollten. Und was Corona betraf… Was, wenn ich mich doch ansteckte, einen schweren Verlauf bekam und jemandem das Beatmungsgerät wegnahm? Und dann… Ein weiterer, völlig anderer Gedanke: Würde ich überhaupt jemanden zur Untermiete finden und rechtzeitig alle Studienunterlagen abschließen können? Ach Mist, und eine Visa-Card brauchte ich dann ja auch noch… All diese Gedanken hielten mich wach, gleichzeitig wurden Erinnerungen und Erlebnisse plötzlich wieder präsenter, - auf eine gute Art und Weise.
Doch am allermeisten erschreckte mich mein Egoismus: Würde ich damit klarkommen, weniger Sport zu machen und die Ausgangssperre ertragen? Würde mir die Arbeit überhaupt Spaß machen oder wäre hierzubleiben die angenehmere Alternative gewesen?
Auch Zweifel krochen in mir hoch: War das nun wirklich Gottes Impuls gewesen oder einfach nur mein eigener? Zwar hatte ich gebetet, aber mein Gebets- und Stille-Zeit-Leben sah momentan so mau aus, dass Gott selbst wenn er gewollt hätte, vermutlich kaum die Gelegenheit gehabt hätte, mich zu erreichen. Hatte ich mich in letzter Zeit nicht wieder erfolgreich um mich selbst gedreht und war ohne Momente der Ruhe und Stille von Termin zu Termin, von Verabredung zu Verabredung gehastet? Ich war mir nicht mehr sicher, doch ich schlug meine Bibel auf und legte Gott die kommende Reise noch einmal ganz bewusst in die Hände.
Egal, wie es jetzt dazu gekommen ist, Gott: Mach du einfach das Beste daraus und gebrauche mich!
Und so grübelnd und betend schlief ich schließlich doch ein.
Am nächsten Morgen konnte ich das Ganze bereits mit etwas Abstand und dadurch etwas klarer betrachten. Ich kam zu dem Schluss, dass alle Gründe dagegen vor allem der Angst entsprungen waren, - und Angst kommt niemals von Gottes Geist, der uns im Gegensatz dazu mit Kraft, Liebe und Besonnenheit ausrüstet. Ich entschied mich außerdem noch einmal ganz bewusst dazu, die Wahrheit zu glauben, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. Und schlussendlich machte ich mir noch einmal bewusst, dass Anfechtungen eigentlich lediglich bedeuten konnten, dass ich mich bereits auf einem guten Weg befand, wenn der Teufel es für nötig betrachtete, mich einzuschüchtern. „Du bist gefährlich.“, drückten Fiona und Anna es einige Tage später aus und erinnerten mich noch einmal daran, wer ich in Gott wirklich war und dass ich mit ihm im wahrsten Sinne des Wortes über Mauern springen konnte. So viele Türen hatte er geöffnet, die mit Leichtigkeit auch verschlossen geblieben hätten können, dass ich ihm jetzt einfach vertraute, dass er mich nicht völlig in die falsche Richtung rennen lies.
In den kommenden Tagen informierte ich Familie, Freunde und Bekannte, lies mich gegen Typhus und Hepatitis A impfen (wobei ich jeden, der mich auf die Pflaster am Arm ansprach, damit enttäuschen musste, dass es sich nicht um die Corona-Impfung gehandelt hatte) und begann, die gültigen Reisebedingungen zu recherchieren.
Am 19.06. fand außerdem zufälligerweise noch das Diospi-Suyana-Treffen in Wiesbaden statt, bei dem ich mich spontan dazu entschloss, ebenfalls mitzufahren. Das stellte sich im Nachhinein als eine richtig gute Entscheidung heraus: Es tat unheimlich gut, Martina, Klaus und Marion wiederzusehen, außerdem Julian und Benni, der kurzfristig auch noch angereist war. Des weiteren lernte ich auch viele neue Leute kennen, zum Beispiel zukünftige Volontäre, die ich vermutlich auch in Peru wiedertreffen würde, sowie überzeugte Christen aus den unterschiedlichsten Berufsfeldern, deren herz eindeutig für Jesus brannte. In der Andacht vor dem Vortrag sagte der Prediger noch: „Wir Christen leben oft so, als würden wir ständig vor einer roten Ampel stehen und erst dann losgehen, wenn Gott uns ein Grün als Startsignal gibt. Dabei ist es doch andersherum: In ihm sind wir mit aller Freiheit und allen Gaben ausgerüstet, um ständig auf der grünen Welle unterwegs zu sein. Nur, wenn Gott die Ampel auf Rot stellt, - dann sollten wir wirklich stehen bleiben.
Dieser Vergleich blieb bei mir hängen und als ich Wiesbaden an diesem Abend wieder verließ, war ich durch die Bilder aber auch durch die Gespräche im Anschluss emotional etwas mehr auf Peru eingestellt und geistlich ermutigt und aufgetankt. Ich umarmte Julian und Benni zum Abschied ganz fest und nahm anschließend noch ein paar Beatmungsschläuche und ein Paket für die Missionare Lächeles mit. Ganz ehrlich, - allein dafür lohnte sich meine Ausreise bereits!
Und selbst wenn alles sehr knapp ausgesehen hatte, öffnete Gott überall zur rechten Zeit weitere Türen: Meine Visacard kam rechtzeitig an, der beantragte Perso wurde schneller fertig als gedacht und ich hatte am Geburtstag meiner Mutter sogar noch die Möglichkeit, mich von meiner Familie zu verabschieden. Den Vogel schoss aber Ann-Carolin ab, die, als sie erfuhr, dass ich schon bald auf der anderen Seite des Globus sein würde, spontan einen Zug buchte und für gerade einmal 25 Stunden nach Marburg kam, um sich noch einmal von mir zu verabschieden.
So, und nun musste er nur noch kommen, der große Tag…
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