30.06. – Lima: Ortszeit 16:23 (deutsche Zeit: 23:23 Uhr)
Es riecht nach Benzin und Regen, als ich aus dem Flugzeug steige. Gemeinsam mit den Gerüchen strömen gleichzeitig hunderte Erinnerungen auf mich ein, während mein übermüdetes Gehirn außerdem verwirrt registriert, dass es sich bei dem Tunnel, durch den wir den Flieger verlassen, um ein Thyssen-Krupp-Produkt handelt. Aha. Interessant.
Ohne weitere Verzögerung werden wir zu der Einwanderungsbehörde gelotst und warten dort in der Schlange darauf, endlich hineingelassen zu werden. Nach der ganzen Aufregung am deutschen Flughafen pocht mein Herz wie verrückt und ich schicke ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel. „Herr,“, flehe ich, als der Beamte eine gefühlte Ewigkeit damit verbringt, mit zusammengekniffenen Augen meine Dokumente zu studieren, „ich brauche jetzt wirklich deine Hilfe. Bitte, bitte mach, dass sie mich reinlassen!“ Doch dann, endlich, nickt er mir mit einem Gesichtsausdruck zu, der ein freundliches Lächeln unter der Maske vermuten lässt und winkt mich durch. Ich atme erleichtert auf. ¡Bienvenidos al Perú!
Auch mein Gepäck hat es heile nach Lima geschafft und ohne weitere Schwierigkeiten finde ich auch den Taxifahrer beinahe auf Anhieb, der mich wie vereinbart zur „Casa de Huespedes“ bringen wird, in der die Mitarbeiter von Diospi oft zuerst unterkommen, bevor sie ihre Reise nach Cusco fortsetzen. Der Mann, von dem mir Haushüter Rober bereits ein Foto geschickt hat, hält ein Schild mit dem Namen „Elena Kemmann“ hoch, sodass ich keine Probleme habe, die ganzen aufdringlichen Taxifahrer abzuwimmeln, die mich ebenfalls zu einer mehr oder weniger vertrauenswürdigen Taxifahrt überreden wollen. Erneutes Aufatmen meinerseits.
Während der Fahrt fühle ich mich automatisch in meine erste Ankunft in Lima vor nun mehr als anderthalb Jahren zurückversetzt. Trotz Müdigkeit ertappe ich mich dabei, wie ich aufgeregt die Stadt beobachte, die draußen vor dem Fenster vorbeizieht und gar nicht weiß, worauf ich meine Aufmerksamkeit zuerst oder zuletzt richten soll. Fast hatte ich vergessen, was für eine absolute Katastrophe der Verkehr in Lima ist: Autos nehmen sich wild hupend mit schöner Regelmäßigkeit auf ungespurten Straßen die Vorfahrt, Rechts-Vor-Links scheint überhaupt nicht zu existieren und als meinem Fahrer ein Verkehrstau an einer Kreuzung zu anstrengend wird, nimmt er kurz entschlossen die Abkürzung über eine Tankstelle. Oh, Lord… Dass man für die 22 Kilometer zu meiner Unterkunft eine gute Stunde braucht, sagt vermutlich alles.
Lima ist natürlich immer noch voller Smog, unfertigen Häusern und Leuchtreklame-Tafeln. Menschen rennen mit mehreren Masken übereinander durch die Gegend, Hunde durchsuchen die Straßenabfälle nach Essbarem und Verkäufer bieten an improvisierten Straßenständen Snacks an, an die ich mich wohl erst in ein paar Wochen herantrauen werde, wenn sich mein Magen einigermaßen an die neuen Umstände gewöhnt hat. Lediglich die vielen Surfer an der Steilküste scheinen keine Maske zu tragen und ich spüre einen schmerzhaften Stich in der Brust, als ich sehe, wie sie sich in die Wellen werfen. Hier in Lima war ich das erste Mal in meinem Leben surfen. Überhaupt erkenne ich viele Bereiche und Straßenzüge wieder und werde zur gleichen Zeit nostalgisch und euphorisch, weil ich es immer noch kaum glauben kann, wirklich hier zu sein.
Am Gästehaus angekommen, nimmt mich Rober freundlich in Empfang. Mein Zimmer ist bereits vorbereitet, ich mache mich noch frisch, drucke mit seiner Hilfe die Check-In-Bestätigung für den nächsten Morgen aus und mache es mir dann unter der dicken Decke gemütlich, die wegen der herbstlichen Frische tatsächlich nötig ist. Daran werde ich mich wohl erst noch gewöhnen müssen.
Nach 19 Uhr peruanischer Ortszeit, 2 Uhr nach europäischer Zeit und 48 Stunden mit nur 2 Stunden Schlaf dämmere ich endlich ein.
01.07. – Lima: Ortszeit 8:01 (deutsche Zeit 15:01 Uhr)
Nachdem ich nach verzweifelter Suche endlich eine passende Steckdose und Instant-Kaffee gefunden, mein „morgendliches“ Work-Out absolviert (ja, ich weiß, ich bin verrückt, aber nach dem ganzen Sitzen und Liegen brauchte ich irgendwie einen Ausgleich) und bereits alles Nötige zusammengepackt habe, werde ich mir nun endlich Frühstück machen. Oh mann, in Deutschland wäre es jetzt einfach Nachmittags, während hier gerade erst vor einer Stunde die Sonne aufgegangen ist, - falls man das bei dem ständigen Smog in Lima so nennen kann. Der Jetlag kickt jetzt schon.
Lima: Flughafen – 11:11 Uhr
Ich bin natürlich viel zu früh hier. 3 Stunden Puffer hat Rober eingerechnet und nun sitze ich bereits am Gate und habe noch 2 Stunden Zeit bis zum Abflug. Aber hey, besser zu früh als zu spät. Und dass mit meinem zusätzlichen Aufgabe-Gepäck, der Visa-Card und dem Sicherheitscheck alles geklappt hat, ist tatsächlich auch nicht selbstverständlich. Sogar das Problem mit dem obligatorischen Face-Shield hat sich sehr zu meinen Gunsten in der Form gelöst, dass mir der freundliche Taxifahrer noch überraschend eines von sich schenkte. Selbst mein Trinken ging ohne Proteste durch den Sicherheitscheck, obwohl ich schon befürchtet hatte, es wegschmeißen zu müssen. Praise the Lord, an dieser Stelle!
Cusco – 15:00 Uhr
Vollgepackt mit Koffer, Rucksack und Laptoptasche trete ich aus dem Flughafengebäude in den strahlendsten Sonnenschein der peruanischen Anden. Kein Wölkchen steht am Himmel und das gleißende Licht sticht mir dermaßen in die Augen, dass ich mich darüber ärgere, vergessen zu haben, eine Sonnenbrille einzupacken. Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, wie viel heller es auf einer Höhe von 3200 Metern ist. Auch ist es trotz der vielen Höhenmeter um diese Tageszeit viel wärmer, als ich eigentlich erwartet hatte. Ebenfalls nicht ganz meinen Erwartungen entspricht der leergefegte Flughafenparkplatz, während sich an dem einzigen Ausgang die Passanten drängen. Diese Logik soll wieder irgendjemand verstehen.
Kein Wunder, dass ich zunächst etwas orientierungslos in der Gegend herumstehe, bevor ich mich schließlich in die Richtung bewege, in der voraussichtlich die befreundeten Missionare Verena und Christian auf mich warten, um mich nach Curahuasi abzuholen. Ein weiterer Grund für personal Dizzyness ist außerdem der Migräneanfall, der mich im Flugzeug mit einem Mal kurz vor dem Start überraschend erwischt hatte. Es war erst der dritte meines Lebens gewesen, sodass ich die Blitze vor meinem Auge zwar als Aura einordnen konnte, meine Unfähigkeit, irgendeinen Punkt im Raum zu fokussieren, jedoch trotzdem mit gewisser Sorge zur Kenntnis nahm. Der beste Ort, um eine Migräne-Attacke zu bekommen, ist wirklich ein startendes Flugzeug. Nicht. Dieses Mal kostete es mich mehr Kraft, die Angst dort eingesperrt zu lassen, wo sie hervorbrechen wollte. Mit hoher Anstrengung schob ich ihr gedanklich wieder und wieder den Riegel der Vernunft und des Gebetes vor und entschloss mich, über die Katastrophengedanken, die in dieser Ausnahmesituation meinen Kopf fluteten. Auch auf körperlicher Ebene fühlte er sich allerdings an, als würde er kurz vor dem Platzen stehen. Für jemanden, der sonst eigentlich nie mit Kopfschmerzen zu tun hat, war das ein wirklich ungewohnt schmerzhaftes Gefühl, aber noch während mir das auffiel, beschloss ich, Gott einfach dafür zu danken, dass es sich eben wirklich um etwas Besonderes und nicht den Normalzustand handelte.
Wie erwartet, überlebte ich den Flug, die Aura hat sich verzogen, nur die Kopfschmerzen sind geblieben. Was mir nun stattdessen auffällt, sind mein Herz, das den fehlenden Sauerstoff mit einer deutlich erhöhten Herzfrequenz zu kompensieren versucht und mein Sprachzentrum, das seltsamerweise plötzlich völlig den Geist aufgibt. Ich habe so rasende Kopfschmerzen, dass ich, als ich Verena und Christian endlich in die Arme falle, keinen klaren Satz herausbringe. Über jedes Wort muss ich eine gefühlte Ewigkeit nachdenken und manche fallen mir überhaupt nicht mehr ein. Extraño…
Zum Glück muss ich jedoch zunächst einmal nicht viel reden, sondern bekomme eine Kopfschmerztablette, etwas zu Trinken und sogar etwas zu Essen. Erst jetzt fällt mir auf, dass meine letzte richtige Mahlzeit bereits etliche Stunden zurückliegt und mein Körper sich von der ganzen Reise wie zerschlagen fühlt. Nun ja, vielleicht war es doch alles in allem einfach ein bisschen viel Stress, kombiniert mit schlichtweg zu wenig Schlaf gewesen.
Während die Kopfschmerzen langsam abflauen, wird mein Enthusiasmus auf der anderen Seite immer größer, als wir durch die Straßen Cuscos fahren. Es riecht nach gebratenem Essen und Obst und anderen Düften, die ich immer noch nicht in Worte fassen kann, aber jetzt, wo sie mir wieder in die Nase steigen, sofort wiedererkenne. Mit ihnen kommen tausende Momentaufnahmen aus Cusco wieder hoch: Gemeinsame Wanderungen und Shopping-Touren, Museumsbesuche und Übernachtungen. Und dann ist da natürlich noch die grandiose Aussicht auf die verschneiten Berggipfel, den Salcantay und die bewaldeten Hänge. Ich hatte immer noch Fotos davon auf meinem Handy, aber alles in echt zu sehen, bringt mich vollkommen auf dem Konzept, - und zwar auf positive Weise. Die Farben sind hier oben viel intensiver und klarer. Vielleicht liegt es daran, dass sich die Welt in Deutschland für mich oft so viel trister und grauer angefühlt hat. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur übermüdet und fantasiere. Puede ser :D
Die Autofahrt verfliegt im Nu und je näher wir Curahuasi kommen, desto nostalgischer und ungläubiger werde ich: Kann es wirklich sein, dass ich wieder hier bin? Ist das alles hier real oder nur ein Traum? Und wieso fühlt es sich gleichzeitig so an, als wäre ich nie weggewesen? Ich kenne die Kurven hier, den Blick in den Apurímac und die rostrote Brücke darüber, möglicherweise selbst einige der Straßenhunde. Ich kenne die Sterne, die sich langsam aber sicher ihren Weg durch die schnelle Abenddämmerung kämpfen. Und natürlich kenne ich auch das Ortsschild „CURAHUASI“, das gegen 18 Uhr abends endlich an uns vorüberzieht. Nach langer Zeit riecht es endlich wieder so, wie es riechen soll. Klingt so, wie es klingen soll. Fühlt sich einerseits aufregend fremd und andererseits heimatlich vertraut an.
Wir fahren an der Wohnung vorbei, in der ich mit Selina und Janna gewohnt habe, durch die Gassen, in denen ich im Lock-Down vor der Polizei davongerannt bin und dem Haus, in dem die Jungs damals gewohnt und ihre Feuerschale für nächtliche Lobpreisabende zur Verfügung gestellt haben. Und schließlich betreten wir das Haus von Verena und Christian, in dem wir nach der anstrengenden Reise alle noch gemeinsam Würstchen und Nudelsalat genießen, bevor ich in mein neues Heim gebracht werde.
Ich genieße die Gemeinschaft und die vielen Flashbacks und bin dankbar dafür, dass mein Sprachzentrum mittlerweile wieder zu funktionieren scheint. Hier auf 2600 Metern hat auch mein Herz mittlerweile aufgehört, zu rasen, sodass ich mich zwar immer noch mehr als müde, aber immerhin nicht mehr völlig wie vom LKW überfahren fühle. Was mich jedoch wirklich vollkommen umhaut, ist die Wohnung, die ich einige Minuten später betrete. ,Das kann doch nicht euer Ernst sein.‘, denke ich, während sich gleichzeitig ein Lächeln auf mein Gesicht stiehlt. Uns erwartet ein wunderschön eingerichtetes großes Wohnzimmer mit moderner Küchenzeile, außerdem einer gemütlichen Sitzecke und vielen DVDs, Büchern und Spielen. Das Haus selbst ist ziemlich modern geschnitten, mit einer Treppe, die zu einer Galerie hinaufführt, an die weitere Schlafzimmer, ein Bad, sowie der Aufgang zu einem kleinen Dachboden grenzen. Die Wände sind in einem modernen Farbton, irgendwo zwischen fuchsorange und karmesinrot gestrichen und als ich das Zimmer betrete, das Verena bereits für mich vorbereitet hat, bin ich so überwältigt, dass mir fast die Tränen kommen. Wow. Just… wow. Nun fehlen mir wieder die Worte, aber aus Freude: Es ist klein, aber sehr sauber und gemütlich, mit einem schönen Schreibtisch direkt vor dem Fenster und einem Balkon, von dem aus man morgens einen Blick auf die goldenen Berggipfel erhascht, die im ersten Licht der aufgehenden Sonne zu leuchten beginnen, und abends den Sonnenuntergang genießen kann. Es ist einfach perfekt. Viel mehr als ich gebraucht hätte, das schon. Aber trotzdem einfach schön.
„Danke.“, stammele ich nur. „Vielen, vielen Dank.“
Da die 1,5 Meter Abstand ohnehin schon hinfällig sind, falle ich den beiden einfach noch mehrere Male überschwänglich um den Hals. „Danke.“
2.7. – 9:55 Uhr: Curahuasi
Momentan sitze ich im Lehrerzimmer des Diospi-Suyana Colegios, futtere Kekse, trinke das gute „Cielo“-Wasser (Eleva tu vida!) und nutze den WLAN-Zugang, um etwas an meinem Blog zu arbeiten. In diesem Raum habe ich bei meinem letzten Aufenthalt so viel Zeit verbracht, dass es sich anfühlt, als wäre ich überhaupt nicht weg gewesen. Überhaupt habe ich dieses Gefühl schon, seit ich wieder hier bin. Irgendwie, als wäre die Zeit stehengeblieben. Und irgendwie auch überhaupt nicht, weil die Schule immer noch so leer ist und die Lehrer mit einem Abhol- und Liefer-System der Schulmaterialen, kombiniert mit einem Zoom-Meeting-Modell arbeiten. Weil jeder Masken auf den Straßen trägt und viele Restaurants haben schließen müssen, während dafür neue aus dem Boden geschossen sind. Ansonsten hat sich hier in Curahuasi nicht viel verändert.
Nachdem ich am vergangenen Abend um 20 Uhr ins Bett gegangen bin, fühle ich mich nach acht Stunden Schlaf wieder relativ ausgeschlafen. Zwar war ich gegen halb fünf schon wieder wach , - so ganz habe ich den Jetlag wohl doch noch nicht ganz in die Knie gezwungen, - hatte dafür jedoch die Möglichkeit, aus meinem Fenster mitzuerleben, wie das Licht der aufgehenden Sonne langsam über die umliegenden Berghänge kroch. Es sah beinahe so aus, als habe jemand aus einem Kessel flüssiges Gold am Horizont ausgeschüttet, das sich nun langsam in den Talkessel ergoss.
„Wow.“, dachte ich und dann sagte ich es noch einmal laut: „Wow.“ Einfach, damit es real wurde.
Zum Frühstück gab es Haferflocken mit Johannisbeeren (importiert) und Bananen (natürlich von hier) und als ich in die Banane biss, konnte ich nicht anders, als die Augen zu schließen und genussvoll aufzustöhnen. So mussten Bananen schmecken. So und nicht anders. Doch man kann diesen intensiven Geschmack nicht beschreiben, wenn man es nicht selbst erlebt hat. Deutsche Bananen sind ein Witz dagegen.
Ich machte mich fertig, packte bereits einige Sachen aus und merkte dabei, wie mit jedem weiteren Schritt eine übersprudelnde Freude von mir Besitz ergriff. Ich war hier! Ich war wirklich hier! Ich hatte es getan. Und ich fragte mich, wie ich je hatte glauben können, dass ich das in irgendeiner Form bereuen könnte.
In der Schule fielen einige der Lehrer aus allen Wolken. Überall wurde Faust an Faust gedrückt und einige, die es wirklich nicht aushielten, fielen mir einfach um den Hals. Da waren so viele Gesichter, bei denen ich teilweise gar nicht damit gerechnet hatte, sie wirklich wiederzusehen und es rührte mich zutiefst, wie echt ihre Freude darüber war, dass ich wieder da war. Damit hatte ich aus irgendeinem Grund überhaupt nicht gerechnet. Andere Lehrer kannte ich noch überhaupt nicht, was in mir allerdings lediglich die Vorfreude darauf steigen ließ, auch diese Menschen kennenzulernen. Nach einer Andacht wurde gemeinsam und anschließend auch noch einmal für mich ganz speziell gebetet, sodass es nun wirklich offiziell war: Ich war hier. Ich würde helfen und unterstützen können. Und am allerschönsten: Die Leute um mich herum freuten sich über meine Anwesenheit.
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