6.7.
Die ersten Tage in Curahuasi sind ein einziger Taumel von Hochgefühl zu Hochgefühl. Nach dem ersten Vormittag in der Schule fuhr ich mit einigen Kollegen zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ins Krankenhaus, um dort bei einem Blick auf die verschneiten 6000er das leckere Mittagessen zu genießen. Diese Quinoa-Suppe hatte ich wirklich vermisst und irgendwie schmeckte auch der Reis hier immer viel besser, als ich ihn aus Deutschland gewohnt war. Netterweise wurde hier außerdem kaum etwas weggeschmissen, da die Reste meist an die Hunde oder wahlweise auch die Schweine verfüttert wurden.
In der nun corona-konform aufgeteilten Cafeteria traf ich viele weitere Menschen, - einige von ihnen sehr überrascht, mich zu sehen, andere wohl bereits darüber informiert. So oder so war es ein emotionales Chaos der guten Art und ich freute mich bereits jetzt darauf, davon zu hören, wie es den anderen ergangen war. Curahuasi hatte sich in der Zeit des Lock-Downs nicht sehr verändert: Es gab einige neue Häuser – beziehungsweise einige Häuser, die nun endlich einen fertigen dritten Stock besaßen – sowie viele weitere Baustellen, echte Straßenschilder und sogar eine erste Ampel, doch darüber hinaus hatte ich bisher eigentlich keine größeren Überraschungen erlebt. Sogar die Hunde schienen irgendwie weniger aggressiv zu sein, als ich das von früher gewohnt war. Ich schlenderte ein wenig durch die bekannten Gassen, kaufte noch ein paar Dinge ein und machte mich schließlich auf den Heimweg. Dort angekommen beschloss ich, mir meine Laufschuhe zu schnappen und einfach mal die Probe aufs Exempel zu machen: Wie gut würde ich mit der dünneren Luft klarkommen? Zu meiner großen Überraschung merkte ich tatsächlich kaum einen Unterschied. Bei herrlichem Ausblick joggte ich meine alte Strecke ohne große Schwierigkeiten bis zu Kilometer 4 den Berg hoch und anschließend wieder hinunter, sodass ich nach etwa einer Stunde schließlich glücklich, zufrieden und lediglich angenehm erschöpft wieder zuhause ankam.
Nachdem ich mich etwas frisch gemacht hatte und in ein Sommerkleid geschlüpft war, ging es auch schon wieder los: Eine Lehrerin hatte Geburtstag und mich ebenfalls zu ihrer Feier eingeladen. Die Freizeitgestaltung im Privaten war in Peru oder zumindest in Curahuasi offensichtlich wenig von dem Lock-Down betroffen und ich musste mich erst daran gewöhnen, wild durcheinanderschreiende, karaoke-singende und ausgelassen tanzende Menschen in einem engen Raum zu sehen. Zunächst hielt ich mich eher im Hintergrund, aber irgendwann warf ich meine Vorbehalte über Bord und begann zum ersten Mal seit langer Zeit wieder damit, zu tanzen und zu feiern. Zu leben, konnte man fast sagen. Und konnte im gleichen Augenblick kaum glauben, wie natürlich und gleichzeitig seltsam sich etwas anfühlen konnte.
Am Donnerstag besuchte ich zum ersten Mal seit langem wieder Sonja, Werner und Johanna, - die Familie, die mir damals als geistliche Patenfamilie zugeteilt worden war. Auch als ich ihr Haus betrat, in dem ich schließlich auch eine Weile allein gewohnt hatte, war es sofort, als wäre ich nie wirklich fortgewesen. Johanna hängte sich sofort in altbekannter Manier (nur leider etwas schwerer als noch vor einem Jahr) wie ein Klammeräffchen an mich und während wir gemeinsam eine Kleinigkeit aßen – ihr Frühstück, mein durch den Jetlag bedingtes frühes Mittagessen – tauschten wir uns über die Ereignisse des vergangenen Jahres aus. Es war schön, wieder da zu sein. Nur hätte Sonja mir ruhig auch etwas früher als erst nach zwei Stunden mitteilen können, dass es sich zufällig gleichzeitig auch um ihren Geburtstag handelte. Sowas kann ich ja leiden, haha. #uuuncomfortable
Nach einer gemeinsamen Partie Kronos machte ich mich wieder auf den Weg nach Hause (seltsam, dass ich jetzt schon „zuhause“ sage), um mein Zimmer weiter einzurichten und meine Sachen in den kleinen Schränken zu verstauen, die ich aus den vielen leerstehenden Räumen nun kurzentschlossen in meinen importierte. Ich liebe es, wenn Abende ungeplant und völlig unerwartet unheimlich schön werden und so verhielt es sich auch an diesem Tag: Bei einer gemütlichen Lagerfeuerrunde im Garten von Matthias und Jenny lernte ich spontan die weiteren Missionarsfamilien kennen, die nach meiner Zeit zu Diospi gekommen waren und genoss anschließend im Kreis einer kleinen, peruanischen Mädelsrunde, zu der ich eingeladen worden war, Bowle und Pizza.
Am nächsten Morgen klingelte mein Wecker dann bereits um viertel nach fünf, da ich mich mit Matthias dazu verabredet hatte, den Capitán, - den Hausberg Curahuasis, - zu besteigen; am besten in Rekordzeit. Bereits am Vorabend hatte ich so meine Zweifel gehabt, ob das in meinem Fall, seit gerade einmal drei Tagen auf der Höhe, eine gute und vor allem realistische Idee war, doch erstaunlicherweise kam ich nur etwa 30 Sekunden nach Matthias ins Ziel, womit ich relativ nah an der vorherigen Rekordzeit lag. Stolz und glücklich trank ich die kühle, klare Bergluft ein, saugte die Weite des grandiosen Ausblickes in mich auf und badete in dem satten, frühmorgendlichen Sonnenlicht. Tausend Meter unter uns rauschte leise der Apurímac und während sich auf der einen Seite im Tal hinter den „Tres Cruzes“ Curahuasi erstreckte, bot sich auf der anderen Seite der Ausblick in den Canyon, der von den majestätischen, schneebedeckten Gipfeln der 6000er eingerahmt wurde. Ich konnte nicht genug bekommen von der Schönheit um mich herum, drehte mich im Kreis, bis mir schwindelig wurde und breitete am Aussichtspunkt die Arme aus, als sei ich ein Kondor, der sich jeden Augenblick in die Lüfte erheben würde. Das Adrenalin der vorangegangenen Anstrengung rauschte noch immer durch meine Adern und mein Herz pochte vor Aufregung und Freude und einfach allem auf einmal. „Danke, Gott.“, betete ich immer und immer wieder in Gedanken. „Danke, dass ich wieder hier sein darf. Oh vielen, vielen Dank! Ich habe das wirklich nicht verdient.“ Und wer weiß, vielleicht, aber nur ganz vielleicht, entschlüpfte mir sogar ein kleiner Juchzer. Wobei… Vergesst, was ihr gelesen habt. :D
So gut, wie der Tag begonnen hatte, ging er weiter: Gemeinsam mit meiner peruanischen Mitbewohnerin besuchte ich erneut den Freiluft-Gottesdienst, in den ich auch früher gegangen war und in dem heute eine Taufe in einem Swimming-Pool stattfand. Der anschließenden Wasserschlacht um mich herum konnte ich deshalb entgehen, weil mich Rehders zum Mittagessen zu sich eingeladen hatten: Matthias hatte einen selbst geschlachteten Erpel zubereitet und es gab selbst gemachten Rotkohl, Kartoffeln und Bratensoße. Was für ein Festessen! Wieder einmal war ich überwältigt von Dankbarkeit, durfte ich hier sogar wissen, dass das Fleisch, das ich gerade aß, ein gutes Leben geführt hatte und von den eigenen Besitzern geschlachtet worden war.
Und auch sonst hatten wir eine tolle gemeinsame Zeit: Da Matthias noch einmal losfahren musste, verbrachte ich den Nachmittag gemeinsam mit Jenny und den Kindern, tobte mit Janne, Lina und Ball über das Trampolin und saß anschließend zusammen mit Jenny und einem leckeren Milchkaffee im Halbschatten, wo wir uns ein wenig austauschen und auch zusammen beten konnten. Etwa gegen vier Uhr machte ich mich dann wieder auf den Weg zu einer weiteren Einladung: Eine andere Missionarin, die ich noch nicht kannte, hatte die vielen Single-Frauen zu sich zum Kaffeetrinken eingeladen und so wurde ich nach einem ziemlich steilen Aufstieg mit Obstsalat, Tiramisu, Zimtschnecken und Waldbeeren-Kuchen belohnt. Noch viel wichtiger als die tollen Leckereien (ja, ihr merkt, ich bin hier gefühlt nur am Essen… xD) waren allerdings die Gespräche und die neuen Bekanntschaften, die ich schließen durfte. Einige der Anwesenden hatte ich wirklich lange Zeit nicht mehr gesehen und war teilweise wirklich überrascht von dem, was sie zu berichten hatten. Und von wieder anderen kannte ich bisher noch nicht einmal die Namen, war aber dankbar darüber, dass sich das nun änderte. Jeder, der seine Zelte in Deutschland vollkommen abbricht, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen, in dem er auf ein Einkommen, Komfort und möglicherweise auch auf Sicherheit verzichtet, hat eine spannende Berufungsgeschichte zu erzählen, - von der ich persönlich immer sehr profitieren darf. Als es langsam dämmerte, schwirrte mir der Kopf vor lauter neuer Gesichtern, Namen und Fakten, doch ich war auch sehr inspiriert und voller neuer Gedanken und Impulse.
Vielleicht lag es daran, dass mir in der Nacht dermaßen der Kopf dröhnte, dass ich kaum schlafen konnte. Fit genug, um am nächsten Tag mit an den Strand zu fahren, fühlte ich mich allerdings trotzdem. Besagter „Strand“ war eine Stelle am Ufer des Apurímac, die Matthias und Tobi erst nach unserer Zeit als Volontäre entdeckt hatten. Schade, eigentlich – denn wenn wir das gewusst hätten, hätten wir dort mit Sicherheit öfter gechillt, Lagerfeuer gemacht und Wasserschlachten veranstaltet. Umso schöner war es nun, dass ich jetzt doch noch die Gelegenheit bekam, diesen wunderschönen Ort zu entdecken, zweimal durch den eiskalten Fluss zu schwimmen, die Füße im feinen Sand zu vergraben und die Bucht mit all ihrer Schönheit in mich aufzusaugen. Der einzige Wehmutstropfen waren die aggressiven Stechfliegen, die sich in Bruchteilen von Sekunden überall auf der Haut festsetzen, um sie in ein einziges Trümmerfeld zu verwandeln. So jedenfalls in meinem Fall.
Ich würde ja sagen, das war es wert, aber ich bin heute Nacht tatsächlich von dem Jucken aufgewacht. Insgesamt habe ich bestimmt 30 oder 40 Stiche abbekommen und ich scheine allergisch darauf zu reagieren, anders kann ich mir die kraterförmigen Ausmaße einiger Bisse nicht erklären . Wenn ich mir dann aber meine gebräunte Haut angucke, bin ich doch wieder ganz froh, dagewesen zu sein. Hey, und ich habe meinen Badeanzug nicht umsonst eingepackt! Das ist doch auch schon etwas! :D
Am Abend desselben Tages fand außerdem noch die Verabschiedungsfeier von zwei Missionars-Ehepaaren und Ricarda statt. Ich hatte sie alle recht gut gekannt und musste zugeben, dass es ein wirklich seltsames Gefühl war, zu wissen, dass es sich nun jeweils um ihre letzten Tage hier handelte. Als ich damals so überstürzt hatte aufbrechen müssen, war von Abschied von ihrer Seite aus ja noch überhaupt keine Rede gewesen. Tja, und nun war ihr Dienst hier beendet und die Zusammensetzung des Diospi-Teams doch irgendwie noch einmal stark verändert. In der hellen Krankenhauskapelle, die ich seit meiner Anreise hier nun das erste Mal wieder betreten hatte, durften wir mit Masken sogar gemeinsam singen und die spanischen Lobpreislieder stiegen als Chor aus lauter bewegten und leidenschaftlichen Stimmen dem Kreuz entgegen, das neben den Buntglasfenstern die weiße Wand zierte. Es wurde ein Sketch aufgeführt, Abschiedsreden gehalten, Geschenke überreicht und gemeinsam für die Missionare gebetet. Gelächter und Tränen wechselten sich ab. Menschen umarmten sich und schienen sich nicht loslassen zu wollen. Abschiednehmen war bei diesem Projekt etwas, das man kannte. Und dennoch war es jedes Mal ein tiefer Einschnitt, etwas unreal und gleichzeitig erst einmal für längere Zeit grausam endgültig. Andererseits – so drückte es der Orthopäde Daniel – konnte man sich auch hier einfach dafür entscheiden, dankbar auf die Zeit zurückzublicken, die man gemeinsam gehabt hatte und was trotz allem blieb, war die Aussicht auf eine gemeinsame Ewigkeit. Kein schneller Trost vielleicht, aber ein langfristiger.
Auch ich spürte Trauer in mir darüber aufsteigen, dass ich nicht noch mehr Zeit mit den Familien gehabt hatte. Bei einem der Ehepaare hatte ich ein wunderschönes Weihnachtsfest erlebt und gemeinsam mit „Magge“, wie er hier genannt wurde, das ein oder andere Mal gejammt, um Gott zu loben. Vor allem sein Sohn Emil war mir bei einem Pfadfinderlager sehr ans Herz gewachsen und die Mutter Susi war einfach eine wirklich gute Seele, mit der tatsächlich auch meine Eltern in der Corona-Zeit Kontakt gehabt hatten, um Hilfsprojekte in den Bergdörfern zu unterstützen.
Nach einem gemeinsamen Essen gingen wir zum offiziellen Teil der Veranstaltung über, unter dessen Deckmantel die gesamte Verabschiedungsfeier überhaupt erst stattfinden konnte: Klaus brachte uns auf den neuesten Stand, was die politische Situation und auch die Lage bezüglich Corona anging, doch damit würde ich jetzt hier ein zu großes Fass aufmachen. Außerdem sind die Themen so interessant, dass dazu in Kürze bestimmt noch eigenständige Blog-Artikel folgen werden. So viel sei allerdings gesagt, dass trotz entmutigender Zahlen und Nachrichten keine Resignation zu erkennen war, im Gegenteil: Wir setzten uns gemeinsam zusammen, beteten für die besprochenen Anliegen und ermutigten uns gegenseitig. Fest stand, dass Gott dieses Krankenhaus, dessen Bau er allein möglich gemacht hatte, auch weiterhin bewahren würde. Und in diesem Wissen gingen wir an diesem Abend auch auseinander, wieder ein Stückchen gefestigter und motivierter, uns für dieses Projekt einzusetzen. Zumindest ging es mir so, - und ich bin mir sicher, dass die Zeit auch an den anderen nicht spurlos vorübergegangen war.
Heute schnappte ich mir dann kurz entschlossen das Fahrrad, das ich von Christians Tochter Maryse ausgeliehen bekommen hatte und fuhr damit die sechskilometerlange Strecke zum Capitan Rumi hinauf, einem Aussichtspunkt, an dem wir Voluntarios im vergangenen Jahr viel Zeit verbracht hatten und mit dem ich viele tolle Erinnerungen verband. Dass ich für die Strecke beinahe eine Stunde benötigte, liegt wohl nicht nur an dem aufdringlichen Schäferhund - den ich zwischendurch davon überzeugen musste, mich nicht zu zerfleischen und stattdessen gnädigerweise bitte passieren zu lassen - sondern vor allem auch an den vielen Serpentinen und den circa 450 Höhenmetern, die man zurücklegen muss, bevor man oben angekommen ist.
Mit jedem Tag schien sich mein Körper jedoch besser an die Höhe anzupassen, sodass ich ohne große Anstrengung den „Gipfel“ erreichte und von dort aus im Sonnenschein ein atemberaubendes Panorama genoss. Diese Tour hatte ich auch in meinen letzten Tagen vor der Abreise noch einmal gemacht, - heimlich damals, trotz Regen, in aller Frühe, einfach, um es ein einziges Mal noch zu Ende gebracht zu haben. Wer hätte gedacht, dass ich dies so bald wieder tun würde, - allerdings immer noch lediglich so halb legal ohne Maske – und weiterhin unter Corona-Bedingungen.
Der restliche Tag verlief entspannt. Ich arbeitete einige Dinge ab, die ich noch erledigen musste, bevor am nächsten Tag dann wirklich mein Arbeitsleben beginnen würde, traf mich zum Abschied noch einmal mit Ricarda, erledigte Einkäufe und schaffte es tatsächlich auch, gemeinsam mit meiner Mitbewohnerin Dapffne endlich eine Sim-Card für mein Handy zu erwerben. Ich genieße die gemeinsamen Gespräche beim Frühstück oder Abendessen mit ihr sehr: Nicht nur, weil ich mein Spanisch weiter trainieren kann, sondern auch, weil sie wirklich viel zu sagen hat und sich tolle Gedanken über Gott und das Leben macht. Sogar in Deutschland war sie schon einmal, sodass sie sich ein bisschen in meine Kultur hineinversetzen kann. Ich fühle mich in dieser Wohnung hier unheimlich wohl, zumal sie wirklich sauber und geräumig ist.
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