26.7.2021
Ich sitze gerade im Auto einer befreundeten Missionarsfamilie und genieße den Blick aus dem Fenster. Wir befinden uns auf der Passstraße von Andahuaylillas nach Paucartambo und der Weg schlängelt sich in Serpentinen an bewaldeten und teilweise auch bebauten Berghängen entlang. Neben der Fahrbahn geht es mehrere hundert Meter steil in die Tiefe, doch die Häuser und Tankstellen, die ab und an an uns vorbeiziehen, lassen einen beizeiten vergessen, dass wir uns bereits fast auf einer Höhe von 4000 Metern befinden.
Hin und wieder liegen Geröllhaufen und große Felsbrocken auf der Straße und ich bemühe mich inständig, nicht allzu genau darüber nachzudenken, was das für uns bedeuten könnte. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, hier in einem Auto an einem Verkehrsunfall oder an Steinschlag zu sterben, höher, als infolge einer Corona-Infektion zugrunde zu gehen. Aber eg –
(Shit, ich habe mich gerade zu Tode erschrocken, weil wir mit vollem Karacho über einen Speed-Bump gebrettert sind, den Werner nicht gesehen hat. Kurzer Herzinfarkt am Rande. Die Dinger sind aber oft auch nicht ausgeschildert und deshalb echt mies.)
Aber egal… Der Ausblick ist viel zu gigantisch, um ihn nicht genießen zu können. Am Himmel ist kaum eine Wolke zu sehen und in alle Richtungen kann man dutzende Kilometer weit blicken. Grasbewachsene Berggipfel sind stellenweise noch bewaldet, doch das ist wohl kein Vergleich dazu, wie es dort früher einmal aussah: Durch den hohen Holzbedarf haben die Einheimischen einfach alle Flächen abgerodet, ohne an die kommenden Generationen zu denken und nachhaltig nach zu pflanzen. Deshalb sind die Anden hier nun braun statt grün. Nun gut, und die beginnende Trockenzeit trägt natürlich ihren Teil dazu bei.
Als wir gestern von Curahuasi nach Cuzco gefahren waren, hatte man einen unfassbar klaren Blick auf den Salcantay gehabt, einen 6000er, der mit seiner dreieckigen Bergspitze ein wenig an den Paramount- oder Toblerone-Gipfel erinnert. Hier ist die Gegend nun noch ein wenig trockener und wirkt beinahe wie ein amerikanischer Nationalpark. Sie bildet außerdem einen scharfen Kontrast zu dem kleinen Naturschutzgebiet in Oropesa, dem wir gestern noch einen Besuch abgestattet hatten: Für 3 Soles konnte man eine halbe Stunde durch ein mooriges Sumpfgebiet wandern und im Abendlicht Fotos unter weidenähnlichen Bäumen machen. Die offizielle Hauptattraktion waren bis zu 3 Meter große Plastiknachbildungen von Ents, die überall im Gelände verteilt waren, doch ich fand den See viel interessanter und für Johanna war das absolute Highlight eine aufblasbare Trampolinrutsche, die ein Jahrmarkt gleich nebenan an diesem Abend zufällig anbot.
Wir schliefen wieder in Andahuaylillas. Die Besitzer des Hotels freuten sich unglaublich, mich gleich eine Woche nach meinem letzten Besuch bereits ein weiteres Mal zu sehen und auch ich genoss die herzliche und offene Art, mit der die Familie und begrüßte und bewirtete. Am nächsten Morgen machten wir uns dann gegen 8:30 Uhr wieder auf den Weg, um die Strecke nach Salvación zu bewältigen. Sobald wir in Paucartambo angekommen waren, endete die asphaltierte Straße und wich stattdessen einer „Trocha“, einer sogenannten Schotterstraße. Paucartambo konnte mit einer hübschen Brücke über den Yavero punkten, ansonsten erinnerten die Straßen und Häuser dann aber auch an andere peruanische Bergdörfer, die ich bereits aus der Gegend um Curahuasi herum kannte. Und noch eine weitere Erfahrung war ähnlich: Als wir nach einer Absperrung der Straße, die wir eigentlich hatten nutzen wollen, nach dem Weg fragten, beantwortete die Dame am Straßenrand unsere „Entweder-Oder-Frage“ schlichtweg mit einem „Si“. Wenn die Leute hier nicht sicher sind, erzählen sie, anstatt genau das zuzugeben, einfach irgendetwas. So kam es dann, dass wir nach etwa 25 Minuten auf dem bereits eingeschlagenen Weg dann doch umdrehen und zurück zu der Umleitung fahren mussten. Das bedeutete also eine gute halbe Stunde länger in der Mittagshitze, eine weitere Tankladung, die aus einem großen Bottich per Trichter eingefüllt wurde (kein Scherz), einen gefühlten Eimer mehr trockenen, geschluckten Straßenstaub und mindestens fünf zusätzliche Fragen von Johanna, wann wir denn endlich da seien.
Als wir jedoch auf einer Höhe von zweieinhalbtausend Metern schließlich den Eingang zum Nationalpark Manú und damit die ersten Ausläufer des „Nebelwaldes“ erreichten, waren die vorherigen Strapazen der Fahrt beinahe vergessen.
Trotz schwindelerregender Höhe und furchteinflößender Abhänge direkt neben der Straße kann ich nicht anders, als mir die Nase am Fenster plattzudrücken: Je tiefer wir in steilen Kurven auf dem Schotterweg hinabfahren, desto grüner und vielfältiger wird die Natur. Die Sierra mit ihren meist trockenen Krüppelformen - ab und an lediglich durchwachsen von einigen Eukalyptusbäumen - weicht langsam aber sicher der Selva und damit moosbewachsenen Baumstämmen, Palmen, riesigen Farnen, Lianen und Orchideen. Es wird feuchter, aber vor allem – lauter. Dutzende mir unbekannte Vogelarten, darunter einige Papageien, überlagern sich mit ihrem Gesang zu einem völlig neuartigen Orchester. Eine Vogelart baut ihre Nester in Form von herabhängenden Taschen in die Äste, eine weitere – auch bekannt unter dem Namen „Gallito de las Rocas“ – ist mit ihrer leuchtend roten Farbe und dem charakteristischen Kamm eines der typischen und damit berühmtesten Tiere Perus.
Wir passieren dutzende Brücken, Tunnel, Wasserfälle und Baustellen, an denen wir teilweise längere Zeit warten müssen, bis die Bauarbeiter sich dazu in der Lage sehen, eine kurze Pause einzulegen, um uns gnädigerweise die zehn Meter vorbeifahren zu lassen. Der Höhe geschuldet, ist es anfangs noch recht frisch, doch je näher wir Atalaya und Salvación kommen, desto schwüler und drückender wird es. Als wir an einem Aussichtspunkt anhalten, um einige Fotos von dem Fluss „Alto Madre de Dios“ zu machen, ist es so warm, dass mir binnen weniger Sekunden sowohl Top als auch Jeans am Körper kleben. Und das soll ich eine Woche lang aushalten? Na danke. Immerhin ist die Straße mittlerweile nicht mehr ganz so schmal und halsbrecherisch, dass man jeden Moment befürchten muss, einfach samt Untergrund und Auto in die Tiefe zu stürzen. In einer Kurve hatten wir sogar ein Auto gesehen, dass kopfüber im Straßengraben lag, - die angetrunkenen Insassen waren jedoch glücklicherweise mit ein paar Schrammen davongekommen und Hilfe war – laut ihrer Aussage – auf dem Weg. (Wie auch immer das ohne Handysignal funktionieren soll…)
Tja, so etwas ist in Peru traurigerweise gar keine so außergewöhnliche Situation. Werner hat es sich zur Angewohnheit gemacht, vor jeder Kurve sicherheitshalber laut zu hupen, um möglichen Unfällen vorzubeugen. Er fährt recht… nun ja, sagen wir mal… „selbstbewusst“, sodass es eigentlich kein großes Wunder ist, dass wir an einer weiteren Baustelle kurz vor Salvación plötzlich bemerken, dass wir einen Platten haben. Auch wenn das natürlich ärgerlich ist, muss ich ehrlich sagen, dass ich in diesem Moment einfach nur dankbar darüber bin, dass uns das nicht auf der Serpentinenstraße auf dem Pass passiert ist. Dort hätte uns so schnell niemand gefunden, - und schon gar nicht helfen können. Die halbstündige Wartezeit kommt gerade recht, ebenso wie der freundliche Fahrer hinter uns, der zufälligerweise auch noch KFZ-Mechaniker ist und uns ohne irgendetwas dafür zu verlangen, den Reifen wechselt. Da auch der Ersatzreifen wenig Luft hat, bedeutet er uns, als wir endlich fahren dürfen, ihm zu seiner Werkstatt zu folgen. Dort pumpt er auch noch den Reifen wieder auf und als wir endlich die letzten Kilometer nach Salvación in Angriff nehmen können, sind wir überwältigt vor lauter Dankbarkeit.
Wir erreichen das Haus, in dem Richar und Yessenia mit ihren Kindern und der Familie von Richars Bruder Julio wohnen, am späten Nachmittag. In Empfang genommen werden wir mit Yuca (nirgendwo ist sie so lecker wie in Salvación, wo sie angebaut wird!), Reis und Fischsuppe, außerdem mit Hundegebell, Kindergelächter und einer herzlichen Umarmung. Das Haus ist voll. Auch eine befreundete Familie aus Curahuasi hat sich auf den Weg in den Regenwald gemacht und da alle außer uns erst gegen vier Uhr Mittag gegessen haben, machen wir uns nach unserem frühen Abendessen alle zusammen auf den Weg zu der neuen Plaza, die Salvacions‘ ganzer Stolz zu sein scheint: Künstlerische Ornamente schmücken den Bereich um den großen Brunnen, Bänke laden zwischen Blumenbeeten zum Verweilen ein und ganz am Rand gibt es einen Schriftzug aus großen, bunten Buchstaben, der abermals stolz und selbstbewusst den Namen der Stadt verkündet. Entgegen meiner Erwartung werden wir kaum von Mücken belästigt, im Gegenteil: Trotz der angenehmen Temperatur um uns herum – mittlerweile nicht mehr heiß, aber auch nicht kalt – scheinen kaum Insekten unterwegs zu sein.
Auf dem Rückweg quetschen wir uns alle auf die Ladefläche eines Motos und während mir der Wind um die Nase weht und ich zum klaren Sternenhimmel hinaufschaue, kann ich nicht anders, als ehrfürchtig über Gott zu staunen: Über seine Schöpfung und darüber, dass er sie mit mir kleinem, rein objektiv betrachtet eigentlich völlig unbedeutenden Menschen teilt, um mir eine Freude zu machen. Danke, hallt es von meinem Herzen aus durch meinen ganzen Körper.
Wieder im Haus von Richar und Yessenia angekommen essen wir ein weiteres Mal zu Abend: Es gibt Yuca-Pommes und einige der Reste, die Sonja noch auf der Fahrt mit dabeihatte: Yuca-Brötchen (sehr zu empfehlen, vor allem, da sie zu etwa 50% aus Käse bestehen), Tomaten, Mangold-Tortilla und weitere Leckereien, denen ich – obwohl ich immer noch voll vom ersten Abendessen bin – einfach nicht widerstehen kann.
Je später es wird, desto müder werde ich jedoch. Irgendwann kann ich meine Augen kaum noch offen halten, was angesichts der Tatsache, dass für mich noch gar kein Bett aufgebaut wurde, ziemlich frustrierend ist. Erst gegen kurz vor zehn nehme ich schließlich all meinen Mut zusammen und frage vorsichtig, ob es vielleicht möglich wäre, eine Matratze oder so etwas nach oben zu bringen. Por supuesto, claro que sí., heißt es, doch bevor ich schlafen kann, muss ich zunächst noch die Kakerlaken aus meinem Zimmer scheuchen. Uah. Nicht darüber nachdenken, was für giftige Spinnen hier möglicherweise noch unterwegs sind… Im Bad springt ein kleiner Frosch durch die Gegend und als ich wieder in mein Zimmer gehen will, fliegt mir plötzlich etwas mit einer Wucht ins Gesicht, dass ich einen Aufschrei unterdrücken muss. Erst, als sich mein Blickfeld etwas klargestellt hat, sehe ich, dass es ein riesiger Schmetterling ist, seine Flügelspanne in etwa so lang wie eine Handbreite. Wow. Naja, immerhin war es nicht der Frosch. Dennoch brauche ich trotz Müdigkeit und Erschöpfung noch eine Weile, bis ich mich von dem Schreck erholt habe und in dem schwülen Zimmer – lediglich mit einem Laken zugedeckt – endlich einschlafe.
Am nächsten Morgen erwache ich recht früh, was mir jedoch die Möglichkeit gibt, noch vor der Hitze des Tages bei einer Joggingrunde die Stadt zu erkunden. Salvación besitzt eine asphaltierte Hauptstraße, die sich durch den gesamten Ort zieht, darüber hinaus gibt es jedoch wie in Curahuasi lediglich Schotterstraßen. Nach deutschem Maßstab würde man sicherlich auch nicht von einer Stadt, sondern eher von einem kleinen Dorf sprechen, doch ich finde es ziemlich erstaunlich, wie viel es hier gibt, - gemessen daran, dass es außer dem halsbrecherischen Asphalt-Weg, den auch wir gefahren sind, keine andere Möglichkeit gibt, hierher zu kommen.
Nach etwa einer Stunde bin ich erschöpft aber glücklich wieder da und genieße die kalte Dusche in vollen Zügen. Ganz ehrlich? Kalt zu duschen war noch nie so angenehm wie im schwülen, tropischen Regenwald. In meinem Baumwoll-Jumpsuit und mit dem obligatorischen Handtuch-Turban auf dem Kopf schlendere ich schließlich in die große, offene Küche, in der es bereits angenehm nach Kochbananen, Rührei und Yuca-Pommes riecht. Zum Frühstück gibt es außerdem eine heiße Schokolade mit Quinoa und Zimt und ich fühle mich so langsam aber sicher wie im Sommerurlaub. Irgendwo in der Nähe singen – oder besser „krächzen“ – Papageien, die Sonne scheint mit jeder verstreichenden Minute intensiver, doch eine leichte Brise sorgt für die nötige Abkühlung.
Nach dem Essen brechen wir schließlich auf, in Richtung Laguna Machuwasi. Der Name ist Quechua und bedeutet in etwa so viel wie „altes Haus“. Dass in dieser Lagune vor langer Zeit einmal jemand gewohnt hat, bezweifele ich allerdings eher, denn als wir sie nach einem Spaziergang durch den immer dichteren Regenwald erreichen, brauchen wir mehrere Holzflöße, um sie überqueren zu können. Eigentlich sollte ich vermutlich auf den Weg vor meinen Füßen achten, doch ich bin so hin und weg von der Arten- und Farbvielfalt der Natur um mich herum, dass ich meinen Mund kaum noch zubekomme. Bisher kannte ich den Regenwald nur von Bildern und Filmen, doch jetzt stehe ich plötzlich mittendrin – und kann es nicht glauben. Auf der Überfahrt sehen wir riesige, papageienartige Vögel, die tiefe, kehlige Laute von sich geben, die mich an das Geräusch von Wassertropfen erinnern. Und auf der anderen Seite der Lagune schwingen sich über uns in den Bäumen Affen von Ast zu Ast, während es auf dem Boden um uns herum nur so von Ameisen und Käfern wimmelt.
Man hätte mir eventuell allerdings durchaus sagen können, dass es sich im Regenwald durchaus lohnt, Gummistiefel oder zumindest lange, geschlossene Hosen anzuziehen. Wie blöd es war, darüber nicht genauer nachzudenken, merke ich spätestens, als plötzlich dutzende große Ameisen meine Schuhe und meine Beine hinaufkrabbeln. Panisch versuche ich, sie wegzuscheuchen, werde jedoch von einer gebissen. Mein Herz rast und als sich sofort allergisch rote Pusteln auf meiner Haut bilden, trägt das natürlich nicht sonderlich dazu bei, meinen Schreck und die darauffolgende Sorge zu lindern. Hier in der Selva weiß man nun einmal nie, ob das Tier, von dem man gerade gebissen wurde, nicht eventuell hochgiftig war. Scheiße.
Es bleibt jedoch bei dieser allergischen Reaktion und als ich später – wieder im Haus von Richar und Yessenia angekommen – erfahre, dass Julio vor nicht allzu langer Zeit genau an dieser Lagune eine Schlange getötet hat, bin ich froh, mit meinem Ameisenbiss davongekommen zu sein. Wie gut, dass es Fenistil gibt. Und Gummistiefel – für die nächsten Touren.
Den Abend desselben Tages verbringen wir am Fluss „Carbón“, in dem wir schwimmen und uns mit Reifen abwärts treiben lassen. Das Wasser ist unheimlich klar und angenehm warm und obwohl der Fluss an dieser Stelle nicht sonderlich tief ist, gibt es ein paar Stellen, an denen man durchaus ein paar Züge kraulen kann. Am Ufer hole ich mir die ersten Mückenstiche, doch das war es durchaus wert.
Auf dem Rückweg besichtigen wir noch kurz die Hühnerfarm, die Richar seit kurzem betreibt. Das Gehege ist zwar sauber, aber sehr klein und ich habe Mitleid mit den Küken, die sich aneinanderdrängen. Wer weiß, ob ich das Hühnchen, das wir zum Mittagessen zu Reis, Yuca und Bohnen serviert bekommen haben, genauso hätte genießen können, wenn ich gewusst hätte, dass es ein solches Leben gehabt hat.
Abends ist es noch relativ warm, doch schon, als ich am nächsten Morgen nach meinem Work-Out in Pluderhose und bauchfreiem Oberteil mein Zimmer verlasse, merke ich, wie sehr in der Nacht die Temperatur gefallen ist. Es regnet, zieht und ist so windig, dass ich auf dem Absatz umdrehe, um mir ein wärmeres Outfit anzuziehen.
Seit gestern sind außerdem mehrere Familienmitglieder dauerhaft am Husten und ich bin unwillkürlich froh darüber, dass das Haus, in dem wir uns befinden lediglich offene Fenster hat und damit gut durchgelüftet ist. Bereits die gesamten letzten Tage war ich dauerhaft mit Rina in Atalaya in Kontakt, einer Freundin von Bigalkes, bei welcher ich die Unterkunft von Henri, Amelie und Rebecca organisiert habe und nur noch nicht genau wusste, wann ich selbst dazustoßen würde. Ich habe ein schlechtes Gewissen, sie ständig auf den nächsten Tag vertrösten zu müssen, doch bisher hatte es sich abends einfach noch nicht ergeben, durch den Urwald von Salvación ins Nachbardorf zu fahren. Nachts fahren hier keine Mototaxis und für ein teureres Taxi wollte ich kein unnötiges Geld ausgeben. Der ursprüngliche Plan von Richar, Yessenia, Julio, Azueros und Keßlers ist es, gemeinsam eine Pisci-granja (zu deutsch: Fischfarm) und anschließend etwas weiter entfernte Thermalbäder zu besuchen. Da wir nur zwei Autos haben, wird – wie üblich – gequetscht, doch als sich ausgerechnet Julios Frau mit Verdacht auf Corona neben mich setzen will, beschließe ich spontan, dass genau jetzt der Augenblick ist, in dem ich mein Versprechen an Rina endlich einlösen und nach Atalaya fahren werde. Die Nachricht von Henriette, dass Rina und Cesar es vermutlich nicht so schön finden, wenn Absprachen ständig nicht eingehalten werden, bestärkt mich in dieser Entscheidung noch zusätzlich.
Also schultere ich meinen Rucksack, zwei Moskitonetze, ein Federballset und die Wanderschuhe, steige nach kurzer Erklärung aus und lasse mir von Richar ein Moto-Taxi rufen. Für 15 Soles bringt mich der recht junge Fahrer über die teilweise sehr unebene und durch den nächtlichen Regen zusätzlich aufgeweichte Straße nach Atalaya. Während der Fahrt kommen wir ins Gespräch und als er mich am Ende nach meiner Nummer fragt, schreibe ich sie ihm nach dem ersten Moment der Verwirrung schulterzuckend und ein wenig amüsiert auf die Rückseite eines Kassenbons.
Rina läuft mir, sobald sie die quietschenden Bremsen des kleinen und zugegebenermaßen bereits etwas wackeligen Gefährts hört, sofort entgegen, um mir mit meinem Gepäck zu helfen. Gemeinsam verstauen wir es in dem Zimmer, das ich mir in den nächsten zwei Tagen mit der Krankenschwester Rebecca teilen werde. Hier wartet nicht nur ein frisch bezogenes Bett, sondern auch ein Moskitonetz auf mich, weshalb ich meines kurzentschlossen in die Ecke des Raumes befördere. „Mädchen, wo hat es dich nur hin verschlagen?“, scherzt Rina auf Spanisch. „In Atalya wohnen wir doch, nicht in Salvación!“ Mit ein wenig schlechtem Gewissen kläre ich sie über den Grund der vielen konfusen Nachrichten auf, die sie in den letzten Tagen von mir erhalten hat und verstehe erst jetzt, wie sehr es sie getroffen hat, dass die Familie Zeier so spontan abgesagt hat. „Mein ganzer Kühlschrank ist jetzt voller Essen, das ich wegschmeißen muss.“, klagt sie und gestikuliert dabei aufgeregt mit den Händen. „Ich kann viel essen.“, versuche ich sie zu trösten, - halbwegs erfolgreich. Der Tatsache, dass Henriette und Rebekka „auch noch Vegetarierinnen“ sind, ist mein ebenfalls nur wenig Fleisch gewohnter Magen dann eben doch nicht gewachsen. Bis zu nächsten Mahlzeit (vegetarisch natürlich) dauert es allerdings noch etwas, sodass ich mich von Rina mit Gummistiefeln ausstatten und zum Fluss schicken lasse. Dort finde ich dann endlich auch die anderen und wir machen noch eine Andacht, hören gemeinsam Lobpreismusik und machen uns schließlich wieder auf den Weg ins Dorf, wo wir eine Kapelle besichtigen, uns von einem Einheimischen mit seiner Machete eine Kokosnuss aufschlagen lassen und anschließend bei Rina Gemüse-Quinoa, panierte Aubergine und Kochbananen genießen. Mittlerweile ist auch der Rest der Familie aufgetaucht: Wir lernen ihren Ehemann Cesar, die ältere Tochter Estefani und das kleine Baby Luana Maryse kennen, welches die beiden nach den Kindern von zwei verschiedenen Missionarsfamilien benannt haben.
Cesar ist es auch, der uns anschließend in einen Bus bugsiert, und zu dem Tiergarten „Dos Lobritos“ mitnimmt. Wir sehen Faultiere, Papageien, Tukane, Schildkröten, Kaymane, Tapire einen Leoparden und natürlich Affen. Diebische Affen, um genau zu sein, die es zunächst auf meine Haare und anschließend auf unsere Taschen abgesehen haben. Wo die zwei Sol herkommen, die ein kleines Kapuziner-Äffchen plötzlich in seinen Händen hält, kann sich irgendwie auch niemand so richtig erklären.
Der Kolibri-Garten, dem wir danach einen Besuch abstatten, ist ebenfalls sehr beeindruckend. Über zwanzig verschiedene Arten kann man hier beobachten, erklärt uns der Besitzer auf Englisch und wirklich: In den verschiedensten schillernden Farben sausen die kleinen Vögel mit einem lauten Brummen hin und her, um ihre Schnäbel in die Plastikflaschen mit Zuckerwasser zu stecken, die aufgestellt wurden, um sie anzulocken. Sie klingen fast wie kleine Helikopter – und bewegen sich auch so: Mal stehen sie in der Luft, dann drehen sie wieder ab und sind schneller verschwunden, als man hinterhergucken kann. Leuchtende Blitze in Türkis, Aquamarin, Indigo, Sonnengelb, Rot, Purpur und Orangegelb.
Den Abend verbringen wir mit viel heißer Schokolade und Gesellschaftsspielen. Ich trage einen Fließpullover und zwei Jacken übereinander, - den Fließpullover auch noch, als wir schließlich ins Bett gehen. Da es im Regenwald normalerweise nicht kalt ist, haben unsere Zimmer nämlich keine verglasten Fenster, sondern stattdessen lediglich eine Fensteröffnung mit einem Moskitonetz gegen die Mücken. Erst mit zwei Paar Socken, Thermounterwäsche und Buff-Tuch höre ich schließlich auf zu Frieren.
Es regnet die ganze Nacht. Laute Tropfen, die gegen das Wellblechdach schlagen. Um fünf Uhr morgens klingelt das erste Mal der Wecker, um wie vereinbart zu einem Papageien-Aussichtspunkt zu fahren, doch nach einer kurzen Besprechung ist schnell klar, dass dieser Plan bei dem aktuellen Wetter leider ausfallen muss. Nicht einmal WLAN gibt es wegen der tiefhängenden Wolken. Etwas später gibt es deshalb erst einmal ein leckeres Frühstück mit Obstsalat, Müsli und Joghurt – was wegen des hohen Zuckergehaltes von Müsli und Joghurt nicht ganz so gesund ist, wie es vielleicht klingt – und anschließend werden wir mit Ponchos, Rettungswesten und Proviant in ein Boot verfrachtet. Cesar steuert das lange, schmale Gefährt mit der Hilfe seines Neffen und gemeinsam lotsen sie uns in schnellem Tempo den Alto Madre de Dios hinab. An sich ist das Ganze – vor allem wegen einiger Passagen mit heftiger Strömung – ganz witzig, wäre da nicht der Regen, der uns gemeinsam mit der Gischt frontal ins Gesicht spritzt. Da helfen auch die Ponchos nicht und ich bin ganz verspannt vom Frieren, als wir endlich am Ufer haltmachen. Dort zeigt uns Cesar mit seinem Fernglas einige interessante Vögel, außerdem gräbt er mit seiner Hand aus dem Sand ein paar riesige Maulwurfsgrillen aus, die hier „Perritos de Dios“ (also „Hündchen von Gott) genannt werden. Anschließend stapfen wir ihm brav hinterher, mitten in den Urwald hinein. Das Ziel ist mir zunächst unklar, doch auch so genieße ich die Wanderung. Mit Gummistiefeln läuft es sich wesentlich leichter und ehrlich gesagt ist es mit dem Geräusch der Regentropfen um uns herum sogar noch mystischer als am Vortag. Der ganze Wald scheint zu atmen und überall gibt es verschlungene Wurzeln, Lianen, Orchideen und andere uns unbekannte Pflanzenarten. Sogar an den Höhlen von zwei Panzertieren kommen wir vorbei.
Nach etwa einer halben Stunde erreichen wir schließlich unser Ausflugsziel: Es handelt sich um einen offensichtlich unheimlich alten, knorrigen und moosbewachsenen Baum. Um bis zu seiner Krone hinaufzuschauen, muss man seinen Kopf weit in den Nacken legen (Cesar fällt fast nach hinten um, als er versucht, ein Panorama-Foto von uns zu machen) und um seinen Stamm völlig zu umrunden, bräuchte man 25 Menschen, die sich mit ausgestreckten Armen an den Fingerspitzen berühren. Wirklich beeindruckend, wenn man genauer darüber nachdenkt. Und gleichzeitig auch traurig, wenn einem klar wird, wie viele dieser Bäume erst vor kurzem Waldbränden zum Opfer gefallen sind.
Nach dieser Wanderung fahren wir mit dem Boot wieder den Fluss aufwärts. An zwei Flussschweinen vorbei geht es Richtung Laguna „Machuwasi“, die ich nun ein weiteres Mal besichtigen werde. Allerdings nähern wir uns dieses Mal aus der Richtung des Strandes und auch der Zugangsweg, den wir durch den Wald benutzen, ist ein anderer. Ich darf das Floß lenken, bin aber dennoch froh, als wir diesen Teil des Tagesprogrammes hinter uns gelegt haben. Leichte Kopfschmerzen beginnen hinter meiner Stirn und meinen Schläfen zu pochen und ich bete inständig, dass sich kein weiterer Migräne-Anfall nähert. Glücklicherweise erreichen wir das Boot und auch Rinas und Cesars Wohnung ohne weitere Zwischenfälle und werden bereits mit Gemüsereis, Kochbananen und gebratener Forelle erwartet. Auch Brokkoli in Ei und Mehl gibt es und auch wenn sich diese Kombination etwas merkwürdig anhören mag, so beschließe ich bei der ersten Kostprobe, dass ich sie unbedingt nachkochen muss.
Viel Zeit zum Mittagessen haben wir nicht, da wir vor der Dunkelheit noch zu unserem nächsten Ausflugspunkt – und vor allem wieder zurück – kommen wollen: Ein Stück flussabwärts gibt es Thermalbäder, die von natürlichen, unterirdischen heißen Quellen gespeist werden. Um dorthin zu gelangen, müssen wir uns abermals durch den Urwald schlagen und über dutzende Baumstämme balancieren. Es ist wirklich unglaublich, wie warm – und schmutzig – das Wasser ist. Lange halte ich mich dort nicht auf, allein schon wegen der vielen Keime, die darin sicherlich ausgebrütet werden. Sowieso ist es viel zu heiß, um darin zu schwimmen, hilft aber, sich nach der Kälte des Tages wieder ein wenig aufzuwärmen. Die Thermalbäder, die Keßlers und die anderen besucht haben, waren wohl sehr viel schöner und größer, doch ich bin trotzdem froh über meine Entscheidung: Laut Sonja hat sich nämlich die kleine Sofia nach dem Besuch der Fischfarm einfach mal so ins Wasser übergeben – natürlich, als alle anderen schon drinstanden. Nomm. Da ziehe ich den netten, gemütlichen Abend mit Rina doch hundertmal vor. Während ich darauf warte, dass die (kalte) Dusche endlich frei wird, helfe ich ihr beim Kochen und genieße die Gemeinschaft und ihre Offenheit, mit der sie mir auch etwas von sich berichtet. Bei einem leckeren Gemüsegericht mit Soya-Geschnetzeltem (ich hätte nie gedacht, dass das kein echtes Fleisch ist, ernsthaft!), Quinoa-Suppe und selbstgemachtem Pudding erzählt sie uns, wie sie Verena und Christian kennengelernt hat und wie überhaupt der Kontakt zu Diospi Suyana zustande gekommen ist.
Am nächsten Morgen stehe ich bereits um halb sechs auf, um noch eine Runde laufen zu gehen. Etwa eine Stunde brauche ich für den Weg zu dem Aussichtspunkt hinauf und wieder zurück, doch es lohnt sich: Bereits auf dem Weg höre ich Papageien kreischen und immer wieder raschelt es in den Blättern am Straßenrand, wenn sich plötzlich ein Tier vor mir versteckt. Als ich um eine Kurve biege, bietet sich mir mit einem Mal ein wunderschönes und beinahe surreales Panorama: Direkt vor mir erstreckt sich noch kilometerweit der Regenwald, doch am Horizont sieht man bereits das Hochgebirge der Selva, das von der aufgehenden Sonne in ein intensives goldenes Licht getaucht wird. Dazu auf der anderen Seite das Delta des Alto Madre de Dios… Nicht nur wegen der Anstrengung fehlen mir in diesem Moment sowohl Luft als auch Worte.
Es ist mein Abschied vom Regenwald. Als ich wieder zurückkomme, erwarten uns frisch gebackene Pancakes, die wir mit Heidelbeermarmelade, Butter und Kakaopulver genießen dürfen. Danach bleiben mir noch ein paar Minuten, um meine Sachen zu packen und dann stehen plötzlich auch schon Keßlers vor der Tür, mit denen ich gemeinsam zurück Cuzco und von dort aus nach Pisac fahren werde. Rina lässt es sich nicht nehmen, mir noch ein paar Kochbananen von ihrer Chakra einzupacken (okay, das ist vielleicht etwas untertrieben, es sind mindestens 30…) und dann geht es auch schon los: Erst durch einige Regenwalddörfer, dann immer höher und höher durch den Nebelwald zu dem Pass und schließlich wieder hinab ins Dorf Paucartambo. Von dort aus wird langsam auch die Straße befestigter und besser fahrbar, sodass man nicht mehr das Gefühl hat, an dem vielen aufgewirbelten Staub zu ersticken oder gleich wieder mit einem Platten stecken zu bleiben.
Bis auf einige kurze Baustellensperren kommen wir von Atalaya aus richtig gut durch und sind bereits gegen halb vier Uhr nachmittags wieder in Cuzco.
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