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Luzgarda - Eine bewegende Begegnung mit einem Quechua-Mädchen

Ich begegnete Luzgarda auf meiner Reise zu den Regenbogenbergen.

Die drei Frauen, mit denen ich dorthin gereist war, hatten beschlossen, den Rest des Rückweges doch noch mit Pferden zurückzulegen, doch ich hatte ehrlich gesagt wenig Lust, schon wieder Geld für etwas auszugeben, was ich auch zu Fuß erledigen konnte.

„Dann müssen wir aber auf dich warten und wir sind schon so spät dran.“, warf Jenny ein, sodass mir eigentlich keine andere Wahl blieb, als widerwillig zuzustimmen.

 

Sobald ich allerdings auf dem Pferd saß, merkte ich, dass die Bewegungen des Tieres unter mir scharfe Schmerzen in meine Lendenwirbelsäulengegend sandten. Im Winter diesen Jahres hatte ich einige Tage nicht laufen können deswegen und wollte keinesfalls riskieren, erneut so ans Bett gefesselt zu sein. Als ich dann auch noch sah, in welchem Tempo die Quechuas neben uns die Pferde führten – zu Fuß wäre ich vermutlich tatsächlich sogar schneller gewesen! – reichte es mir endgültig. Wir waren erst ein paar hundert Meter weit gekommen und so bat ich das Quechua-Mädchen neben mir, mich doch bitte absteigen zu lassen. Sie sah mich mit großen, dunklen Augen an.

 

„Warum das denn?“, fragte sie auf Spanisch.

„Ich kann nicht, es tut mir leid. Ich habe Schmerzen im Rücken.“

„Okay. Also machen wir eine kurze Pause?“

„Ich fürchte, ich kann wirklich nicht weiterreiten.“, wiederholte ich. „Wir sind ja noch gar nicht weit gekommen, wieviel bekommst du dafür?“

Ich hatte damit gerechnet, dass sie mir einfach irgendeinen Preis nennen würde, doch damit, wie sie stattdessen reagierte, überrumpelte sie mich total. Tränen traten ihr in die Augen, die sie nur mühsam zurückhalten konnte und als sie wieder sprach, war ihre Stimme ganz rau vor unterdrückter Verzweiflung.

 

„Sie waren meine letzte Kundin. Ich weiß nicht, ob ich noch jemanden finden werde, wenn ich jetzt wieder hochgehe.“

„Du findest doch bestimmt noch wen, es kommen sicher noch ein paar Touristen…“, versuchte ich sie zu beruhigen. Doch sicher war ich mir da tatsächlich auch nicht. Es wurde immer später und kälter und mittlerweile begann es sogar, zu schneien. Die wenigen Leute, die noch unterwegs waren, hatten es nun eilig, durch den immer dichteren Nebel nach Hause zu kommen.

 

„Es tut mir wirklich leid.“, sagte ich zerknirscht, während das Mädchen resigniert die Schultern hängen ließ. „Aber ich kann wirklich nicht weiterreiten.“ Leider hatte ich tatsächlich auch kein Bargeld mehr bei mir, das Einzige, was ich ihr geben konnte, waren 5 lächerliche Soles als Entschädigung. Und viel länger konnte ich tatsächlich auch nicht auf der Stelle stehen bleiben: Die anderen hatten sich längst in Bewegung gesetzt und waren bereits aus meinem Blickfeld verschwunden. Wenn ich sie einholen wollte, dann musste ich mich beeilen.

 

„Ich muss jetzt gehen.“, verabschiedete ich mich und das Mädchen nickte. Sie schien nicht wütend oder sauer zu sein, stattdessen wirkte sie einfach nur traurig und enttäuscht. Das machte es für mich jedoch viel schlimmer. Noch während wir in verschiedene Richtungen davoneilten, sah ich den Blick, mit dem sie mich gemustert hatte, vor meinem inneren Auge. 40 Soles waren hier eine Menge Geld. Vor allem, wenn sie fehlten. Und außerdem: Hatte Jenny nicht recht? Hielt ich nicht alle vollkommen umsonst auf, wenn ich jetzt überhaupt kein Pferd nahm? Oh mann.

Noch bevor ich länger darüber nachdenken konnte, drehte ich mich um und begann, zu winken und laut zu rufen. „Hey! Hey, du! Ich mache es doch!“ Auch wenn ich es auf die Entfernung schlecht einschätzen konnte, hätte ich schwören können, sie erleichtert lächeln zu sehen, als sie sich zu mir umwandte. Schnell wendete sie das Pferd und kam mir den Hang hinab wieder entgegen.

 

„Soll ich dir beim Aufsteigen helfen?“, erkundigte sie sich gleich, als sie mich erreicht hatte, immer noch ganz außer Atem von dem kurzen Lauf.

 

„Nein, musst du nicht.“, wehrte ich ab. „Hör zu: Wir machen das anders. Ich werde nicht reiten, weil mein Rücken das glaube ich nicht mitmacht. Aber wenn du willst, dann können wir einfach den Weg gemeinsam Spazieren gehen und ich bezahle dich trotzdem. An meinem Auto habe ich dann auch das Geld, das ich dir geben kann. Was denkst du?“

 

Das Quechua-Mädchen schien zunächst etwas verwirrt, stimmte dann aber zu, glücklich, doch noch ihre letzte Kundin betreuen zu können. Auch wenn die vielleicht etwas seltsam war.

„Wie heißt du eigentlich?“, erkundigte mich, während wir nebeneinander den Abstieg begannen. „Luzgarda.“, antwortete sie und ich konnte nicht anders, als über diesen Namen zu staunen.

„Wow, das klingt aber schön. Ich bin Elena. Schön, dich kennenzulernen. Wie lange arbeitest du schon hier?“

 

Und so kamen wir ins Gespräch. Luzgarda erzählte mir, dass dies erst ihre erste Woche in diesem Job war und dass er ihr zwar gefiel, dass es aber trotzdem schwer sei, zu überleben. Wie sich herausstellte, war ihre Mutter vor acht Jahren gestorben und auch ihr Vater hatte sie und ihre zwei Geschwister verlassen. Dass ich es mit einer Waise zu tun hatte – noch dazu einer, die erst 16 Jahre alt war – machte mich sehr dankbar darüber, dass ich meinem Impuls nachgegeben hatte, doch noch ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen. Luzgarda trug die hier typische Quechua-Tracht: Rot-Schwarz-Weiße Bluse und Rock, dazu bunte Troddeln und sogar eine passende gemusterte Mütze. Mit dieser Kleidung sah man ihr nicht an, wieviel Geld sie besaß oder nicht besaß, doch das Mädchen wirkte aufrichtig. Ich sah, dass sie zitterte und sich die Hände rieb und gab ihr kurz entschlossen meine Handschuhe. Erst wollte sie ablehnen, doch als ich darauf bestand, nahm sie sie schließlich doch an. „Es ist wirklich okay.“, versicherte ich ihr. „Du trägst sie einfach so lange, bis dir wieder warm ist und dann tauschen wir.“

 

Wir kamen auch auf mich zu sprechen und ich erzählte ihr von meiner Zeit in Peru, meiner Rückkehr und meiner Arbeit als Lehrerin für Englisch und Kunst. Auch von Deutschland berichtete ich, von meiner Zeit an der Universität und meinem Wunsch, Ärztin zu werden. Wir waren uns beide absolut einig darüber, dass es besch***** war, online zu lernen und dass wir hofften, dass Präsenz bald wieder möglich war. Ich erklärte ihr, warum ich mich damals entschieden hatte, nach Peru zu kommen und irgendwie waren wir plötzlich beim Thema Glauben und Gott angelangt.

 

„Gott ist allmächtig. Er kann alles, nicht wahr?“, meinte Luzgarda nachdenklich.

 

„Ja, da hast du Recht.“, erwiderte ich. „Er hat mir mein Leben gerettet. Ohne ihn wäre ich nicht hier. Und er kann auch aus deinem Leben etwas machen.“

 

„Meinst du wirklich?“ Die Hoffnung in ihren Augen, gemischt mit mindestens ebenso großen Angst davor, überhaupt irgendetwas vom Leben zu erwarten, um nicht enttäuscht zu werden, zerriss mir fast das Herz.

 

„Ja, davon bin ich überzeugt. Ich kann dir nicht versprechen, dass es eine bestimmte Sache sein wird, die du dir vielleicht wünschst, oder die du erwartest, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass es gut oder sogar besser wird, wenn du ihm vertraust. Ich habe eine ganz lebendige Beziehung zu ihm, weißt du? Das ist mehr als nur Glaube und Tradition. Er spricht mit mir. Er schenkt mir Frieden. Er erhört meine Gebete oder schenkt mir einen Eindruck genau im richtigen Moment… Und vor allem hat er mich frei gemacht. All die Fehler meiner Vergangenheit, alles, was mich und andere verletzt hat und was mich von ihm getrennt hat, das existiert nicht mehr. Er hat es ein für alle Mal aus dem Weg geräumt.“

Wir schwiegen kurz, während sie über meine Worte nachdachte.

 

„Ja. Gott ist unglaublich.“, murmelte sie schließlich.

„Aber er kann dir auch ganz nah kommen.“, ergänzte ich. „Du, Luzgarda, darf ich für dich beten?“

„Ja. Super gerne.“

„Jetzt?“

„Klar.“ Sie lächelte.

 

Und so wandte ich mich in meinem etwas holprigen Spanisch an Gott – laut, damit sie es hören und verstehen und die Worte in ihrem Herzen als Ermutigung behalten konnte. Ich bat Gott, dass er sich ihr zeigen würde, dass er sie bewahren und ihr auch in Zukunft helfen würde, Arbeit zu finden und die Schule beenden zu können. Ich segnete sie mit seinem Frieden und seiner Kraft und der Liebe, die er für sie hatte, egal, was in ihrem Leben vielleicht vorgefallen sein mochte, das sie von ihm trennte. Ich betete, dass er ihr ganz nah kommen würde und dass er sie tröstete, wenn sie seelisch unter dem litt, was in ihrer Vergangenheit vorgefallen war.

 

„Danke Gott, dass du Luzgarda nie im Stich lässt.“, beendete ich schließlich mein Gebet. „Danke, dass du sie gewollt hast, von Anfang an und dass jeder ihrer Tage bereits in dein Buch geschrieben ist. Danke, dass du Pläne des Friedens mit ihr hast und ihr Zukunft und Hoffnung schenken möchtest und dass du all ihren Schmerz bereits getragen hast und weißt, wie sie sich fühlt. Bitte zeig ihr das auch, damit sie nicht nur weiß, sondern auch spüren kann, dass sie mit dem, was sie erlebt hat, nicht allein ist.

Danke, dass wir uns heute hier treffen durften.“

 

Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her und ich merkte, wie sie die Worte tief in ihrem Inneren abspeicherte. Mittlerweile hatte es zu schneien begonnen (Echt jetzt?!?) und der Nebel war immer dichter und dichter geworden. Umso dankbarer war ich, als wir schließlich den Parkplatz erreichten, an dem unser Fahrer nun schon sehr viel länger als eigentlich vereinbart auf uns wartete.

Die anderen Frauen hatten sich – gerade wegen der schlechten Sicht – wirklich Sorgen um mich gemacht und waren sichtbar erleichtert, als Luzgarda und ich aus dem Nebel heraustraten.

„Apurete, Elena!“, rief Jenny, doch das Versprechen, das ich dem Quechua-Mädchen gemacht hatte, hatte für mich nun erst einmal oberste Priorität.

 

„Komm mit.“, wies ich sie an und führte sie zu dem Auto, in dem sich mein Rucksack mit dem Geld befand. Dann gab ich mir einen Ruck und drückte ihr nach kurzem Zögern 100 Soles in die Hand, bevor ich mich mit einer Umarmung von ihr verabschiedete. Sie wollte mir noch das Rückgeld geben, doch ich winkte ab. „Das ist für dich. Danke für alles.“

 

Luzgarda schien sichtlich berührt. „Ich danke dir.“

 

In meinem wenigen Quechua wünschte ich ihr noch Gottes Segen und nachdem wir unsere Nummern ausgetauscht hatten, verabschiedeten wir uns schweren Herzens voneinander. Während der gesamten Autofahrt zurück floss mein Herz über von lauter widersprüchlichen Gefühlen. Das waren sie, die Begegnungen, die ich mir so sehr gewünscht hatte. Einerseits war ich unheimlich dankbar, für die Gelegenheiten, mehr über Peru und das Leben und die Leute hier vor Ort zu lernen. Und andererseits plagte mich mein schlechtes Gewissen, weil es mir vergönnt war, Medizin zu studieren und so viel Wohlstand zu genießen und ihnen nicht. Ich wusste, dass ich dieses Gespräch nie vergessen würde.

 

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