Wie Gott uns beschenken möchte und warum Es sich lohnt, Die Kontrolle an ihn abzugeben
Ostfriesland, Neermoor, 13.09.2023
Ich habe es mir in einem Liegestuhl bequem gemacht, neben mir steht ein griechischer Kaffee, auf meinen Beinen liegt ein strahlend weißes Blatt Papier, das ich noch nicht angerührt habe. Überhaupt weiß ich nicht, wann ich wieder motiviert sein werde, mit meinen Händen, meinem Verstand, einem Stift, meiner Energie und eventuell auch Kreativität (was war das nochmal, könnte uns bitte einmal jemand einander vorstellen?) irgendetwas zu produzieren. Ich blicke auf das satte Grün der Felder vor mir, spüre den sanften Wind auf meinen Armen, den geröteten Wangen, in meinem Haar, beobachte dann und wann eine Kuh oder einen Hasen dabei, einfach nur zu Sein, und – atme. Mehr nicht. Vielleicht lächele ich auch. Ein wenig fühlt es sich so an. Aber dennoch, trotz allem, scheint in meinem Kopf eine unsichtbare Mauer zu existieren zwischen dem, was ich vor den anstrengenden letzten Monaten gefühlt, gedacht und wahrgenommen habe – und dem, was es jetzt noch schafft, bis zu meinem Bewusstsein durchzudringen. Ich nehme viel wahr, genieße, registriere, dass sich meine immer noch verkrampften Schultern und Nackenmuskeln jeden Tag ein wenig stärker auflockern, schlafe, schmecke, fühle… - und habe gleichzeitig das Gefühl, kaum etwas davon zu verarbeiten. Ich hatte ehrlich gesagt mit Erleichterung gerechnet, jetzt, wo dieser Marathon vorüber ist, doch stattdessen ist in mir eine seltsame Leere. Keine Enttäuschung, das nicht. Eher… eine seltsame Gleichgültigkeit, als könnte mein Verstand noch nicht so richtig glauben, dass er gerade nicht mehr auf Hochtouren laufen muss und als hätte er aus lauter Trotz beschlossen, stattdessen einfach den Dienst zu quittieren. Ciao, Kakao. Dann eben nicht.
„Gib deiner Seele Zeit, um wieder aufzuwachen.“, hat meine Mutter mir vor einigen Tagen liebevoll am Telefon geraten, nachdem ich mich verzweifelt und immer noch frustriert und erschöpft von der mündlichen Physikums-Prüfung in einer Pause zwischen zwei Putzattacken (Yep, Coping-Mechanismen sind am Start) bei ihr gemeldet hatte. „Was du jetzt fühlst, ist völlig normal.“
Oder eben nicht fühlst: Triumph. Stolz. Überschwängliche Freude darüber, mein Leben zurück zu haben. Erleichterung. Leichtigkeit. Ein schlagartiges Zurückkehren meiner psychischen und physischen Reserven. Doch vermutlich hat sie Recht und ich muss der Sache etwas Zeit lassen. Das Schöne - diese Zeit habe ich jetzt wieder. Endlich. Und was ist ein besserer Ort dafür als dieser: Mitten auf dem Land, die Luft frisch, klar und immer noch sommerlich warm, einem Himmel, der sich in der Abendsonne in Tönen färbt, die kein Künstler jemals auf einer Leinwand verewigen wird, mit einem Badesee direkt in der Nähe, leckerem Essen im Kühlschrank, geliebten Menschen um mich herum und sogar der Aussicht, in ein paar Tagen nach Amsterdam zu fahren.
Marburg, 29.10.
Es ist das erste Mal, dass ich seit Monaten wieder an einem Blogartikel sitze – und den Grund dafür kennt ihr jetzt. Ich habe mich nach dem Physikum in Ostfriesland und auch danach in meiner Heimat, Marburg und mit der Familie in der sächsischen Schweiz erstaunlich schnell wieder erholt, doch die Motivation, mich hinzusetzen und freiwillig produktiv zu sein, selbst, wenn es in einem Bereich ist, den ich über alles liebe… - dazu hatte ich bisher einfach noch keine Lust. Es wird – ganz entgegen meiner sonstigen Gewohnheit – auch kein sehr langer Artikel werden, ich möchte diesmal einfach von etwas erzählen, das mir während der Lernzeit für das Physikum sehr wichtig geworden ist, auch wenn ich damals noch nicht die Zeit hatte, es schriftlich festzuhalten.
Ich begann meinen abgekürzten 36-Tage-Lernplan in Marburg nach einer ohnehin schon relativ anstrengenden Klausuren-Phase. Zuvor hatte ich mich lediglich darauf konzentriert, erst einmal die Prüfungen zu schaffen, um zum ersten Staatsexamen zugelassen zu werden, immer mit der Hoffnung, „dass die Physikums-Lernzeit schon nicht so schlimm werden würde“. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass zehn Stunden in der Bib am Tag sicherlich ausreichen würden, doch als ich an Tag 1 meines Lernplanes bereits von 8 bis 18 Uhr gearbeitet hatte und immer noch nicht fertig war,
realisierte ich so langsam, was mich die nächsten anderthalb Monate wirklich erwartete. Und dabei hatte ich doch jetzt schon kaum noch Energie.
Umso wichtiger wurde mir schnell ein fester Tagesablauf: Ich stand um 7 Uhr auf, las während meines Frühstücks noch in der Bibel, kochte mir Kaffee, um ihn in einer Thermoskanne mitzunehmen und war dann spätestens 8 Uhr in der Bibliothek. Meistens hielt ich bis etwa 17 Uhr durch, anschließend machte ich mich dann wieder auf den Heimweg, um dort noch etwas Sport zu machen, wenn ich die Energie dafür hatte und lernte danach bis etwa 22 Uhr weiter – wenn ich das Glück hatte, bis dahin mit dem Stoff durchgekommen zu sein. Manchmal setzte sich David in der Bibliothek neben mich oder holte mich für eine halbstündige Mittagspause im alten botanischen Garten ab, aber letzten Endes war mein Tag oft ziemlich ähnlich. Bis er mit seinem besten Freund für zwei Wochen nach Schweden aufbrach und ich hin- und her überlegte, ob ich nicht vielleicht für ein paar Tage in die Heimat zu meiner Familie fahren sollte.
Was mich zögern lies, war die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, wie gut ich dort würde lernen können. Hier in Marburg hatte ich mittlerweile mein System etabliert, dort war mir die Kontrolle wieder entzogen. Ich wusste, dass sie es gut mit mir meinten, aber würde der winzige Schreibtisch in meinem alten Zimmer groß genug sein? Erwartete vielleicht jemand von mir, zu den Mahlzeiten zu erscheinen, würden sie enttäuscht sein, wenn ich das einmal nicht konnte? Würde es mir gelingen, mich aus allem herauszuziehen? Und was war mit meiner Oma, die zufällig auch zu Besuch sein würde? Ich hatte Sorge, sie zu erschrecken mit dem Pensum, das ich täglich bewältigen musste – würde sie sich am Ende vielleicht vernachlässigt fühlen oder sich unnötig Sorgen um mich machen?
Letzten Endes entschied ich mich jedoch dafür und es entpuppte sich als die beste Entscheidung, die ich während meiner Physikums-Vorbereitung hätte treffen können: Bereits, als ich am Gleis ankam und mein Vater mir half, meinen Koffer voller Bücher zu ziehen, hatte ich das Gefühl, willkommen und von Gott begleitet zu sein. Ein riesiger Regenbogen prangte am Himmel und signalisierte mir sein „Ich bin bei dir.“ stärker und eindrucksvoller, als jeder Bibelvers oder Liedtext es in diesem Moment vermocht hätte. Meine Mutter versorgte mich während der ganzen Zeit rührend mit liebevoll zubereiteten Gerichten, die mir ganz bequem an den Schreibtisch gebracht wurden – und allein die Tatsache, dass ich in dieser Zeit nicht aufräumen, waschen oder zur Bibliothek fahren musste, war ein riesiges Geschenk. Manchmal war ich zu Tränen gerührt, von ihrem Verständnis, ihrer Geduld und der Anteilnahme, die sie mir entgegenbrachten. Ich konnte nichts zurückgeben, das war das knifflige an der Situation – aber meine Familie war der einzige Rahmen, in dem es mir etwas leichter fiel, das anzunehmen. Als ich an einem Morgen plötzlich einen Migräne-Anfall mit Aura bekam, stellte es sich als wahrer Segen heraus, dass mein Vater da war, der mich zur Kontrolle nochmal ins Krankenhaus fahren konnte. Wie gut, dass mir das in der Heimat passiert war!
Warum erzähle ich das alles?
Mir kam im Nachdenken darüber der Gedanke, dass es sich mit meiner, unserer, eurer (? :D) Beziehung zu Gott manchmal ähnlich verhält: Wir wollen oft lieber die Kontrolle behalten, unser Leben so gestalten, wie wir es für richtig halten aus Angst, dass Gottes Gebote und sein Wille für uns dieses Leben sonst dramatisch einschränken und verschlechtern könnten. Wir haben das Gefühl, dass wir sehr genau wissen, was wir brauchen und wie wir es brauchen und es fühlt sich riskant an, jemand anderem die Führung und die Kontrolle zu überlassen.
Doch was ich, was wir dabei oft vergessen, ist, dass Gott uns ja unendlich liebt. Dass er es gut mit uns meint. Und dass er, weil er obendrein noch allwissend ist, auch weiß, was das Beste für uns ist. Was wäre also klüger, schöner und sinnvoller, als sich ihm anzuvertrauen? In Bezug auf meine Familie bin ich unheimlich positiv überrascht worden. Das „Kontrolle abgeben“ hat mir keine Zeit gestohlen, im Gegenteil: Es hat mir unfassbar viel Kraft, Energie und Kapazität zurück geschenkt. Und auch mit Gott ist es oft genauso, was sage ich, sogar noch schöner: Wie oft habe ich schon erlebt, dass sein Weg so viel weiser als meiner war, sein Plan so viel zielführender als alles, was ich mir bis dahin zurechtgelegt hatte, seine Kraft und seine Gegenwart so viel nachhaltiger als meine kurzfristigen Coping-Mechanismen.
Gott meint es nicht nur gut mit uns. Er liebt es, uns zu beschenken, mit dem, was wir brauchen und noch weit darüber hinaus, im Überfluss. Ja, obwohl wir nichts zurückgeben können. Vielleicht auch, gerade weil wir das nicht können, weil es nämlich kein Handel ist, sondern agape; Vollkommen selbstlose, uneigennützige, hingegebene, bedingungslose Liebe. Das Gute ist: Er zwingt uns das nicht auf. Seine Güte und seine Unterstützung sind immer ein Angebot, für das wir uns aus freien Stücken entscheiden können. Und er weiß, wie schwer das manchmal sein kann, gerade, wenn viel auf dem Spiel steht, wenn wir in großen Herausforderungen aufhören, aus eigener Kraft zu leben. Um das Ruder loszulassen und ihm zu vertrauen, dass er übernehmen und unser Schiff im Sturm nicht kentern lassen wird.
„Wer Gott vertraut, wird nicht enttäuscht werden.“, heißt es an mehreren Stellen der Bibel – wie zum Beispiel im Römerbrief, Kapitel 10 Vers 11. Und wenn selbst Eltern so liebevoll um das Wohl ihrer Kinder besorgt sind, ohne dafür etwas zurückzuerwarten, wie viel mehr ist dann unser kreativer, weitsichtiger Schöpfer um uns besorgt, der uns – so verrückt es auch klingen mag – noch viel besser kennt?
Schaut euch die Vögel an! Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln auch nichts in Scheunen. Doch euer Vater im Himmel ernährt sie. Und ihr? Seid ihr nicht viel wertvoller als sie? (Matthäus 6,26)
Manchmal müssen wir uns also trauen, ihm zu trauen. Alles auf eine Karte zu setzen um herauszufinden, ob der Gott, der noch nie ein Versprechen gebrochen hat, auch diesmal zu seinem Wort stehen wird. Und eins ist sicher: Wir können so viel mehr gewinnen, als es zu verlieren gibt.
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