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Uroma Lilo und die Dankbarkeit

Am 13. Januar 1923, vor genau 101 Jahren, kam Emmy Lieselotte Leyer (geborene Sticker) in Frankfurt als jüngere von zwei Schwestern zur Welt. Und heute, mehr als hundert Jahre später, stehen wir hier in ihrem Wohnzimmer, in dem sie immer noch mit dem Rollator durch die Gegend spaziert und wünschen ihr alles Gute. Jahrzehnte mehr an Lebenserfahrung strahlen aus ihren schönen blauen Augen und sowohl ihr Verstand als auch ihr Gedächtnis, funktionieren immer noch so einwandfrei, dass sie uns lange von ihrer Vergangenheit erzählt:  

 

Ihre ersten Erinnerungen hat sie an den Kindergarten (sie mir als kleines Mädchen im Sandkasten vorzustellen, sprengt beinahe meine Vorstellungskraft) und die damalige Volksschule beendete sie als Teenagerin, um eine Lehre zur Schneiderin zu absolvieren. Sie lernte ihren späteren Ehemann Walter bei Freunden in Wiesbaden kennen und obwohl die beiden sich schon lange sehr gut kannten, war es ihnen wegen des Krieges zunächst doch zu unsicher, sich miteinander zu verloben. Walter musste als Soldat in den Krieg, doch ihm wurde schnell klar, dass er ohne Lieselotte nicht leben wollte. So fragte er zunächst ihre Eltern („Das musst du sie selbst fragen!“) und holte sie dann eines nachmittags überraschend von der Arbeit ab, um ihr die entscheidende Frage zu stellen. Die beiden verlobten sich und Walter bekam ein paar Tage „Heiratsurlaub“, woraufhin er im Anschluss allerdings sofort wieder nach Norwegen reisen musste, wo er stationiert war. Ein Jahr lang hörten die beiden kaum etwas voneinander, wussten zeitweise nicht, ob der oder die andere noch lebte – und zu ihrem gemeinsamen Hochzeitstag bekam Lilo lediglich einen Brief, den Walter ihrer Mutter schon vorher zu diesem Anlass gegeben hatte.

 

Zu allem Überfluss mussten die Stickers im letzten Jahr des Krieges auch noch aus ihrer Wohnung fliehen, sodass Lilo den besagten Brief zufälligerweise genau in Herbstein las, wo später ihre Enkel und Urenkel leben und aufwachsen würden.

 

Nach dem Krieg, mit 23 Jahren, brachte Lieselotte ihre Tochter Irene auf die Welt. Walter wurde jedoch schwer krank. Mit einer Sepsis wäre er im Krankenhaus fast gestorben und hätte beinahe seine Frau mit der kleinen, gemeinsamen Tochter allein zurückgelassen. Doch wegen ihres mutigen Einsatzes und der Hilfe einer Freundin schafften sie es, einen amerikanischen Arzt dazu zu überreden, Walter doch etwas von dem Penicillin zu geben, das normalerweise den Besatzern vorbehalten war – und Walter überlebte. „Ich bin so dankbar, dass ich ihn dann noch weitere 50 Jahre haben durfte.“, erzählt uns Uroma Lilo - und ob die Tränen in ihren Augen vom Alter oder von der Rührung kommen, bleibt wohl ihr Geheimnis.

 

Sie erzählt noch weiter – davon, wie sie das Haus, aus dem sie 3 Jahre lang vertrieben worden waren, wieder in Besitz nehmen durften (und es mit viel Arbeit wieder schön machen mussten), wie es früher in Offenbach und Frankfurt war, über ihre Arbeit im Büro, die Familie und vieles mehr. Manchmal muss sie einige Sekunden nach den richtigen Namen suchen, doch ich stelle mir ihren Schatz an Erinnerungen ein bisschen wie eine riesige Bibliothek vor: Kein Wunder, dass man da etwas länger suchen muss, um das richtige Buch zu finden.

 

Jetzt habe ich viel über Uroma Lilos Leben erzählt – doch wie ist sie heute? Bis vor einem Jahr lief sie immer noch selbstständig zum Bäcker um die Ecke, um Brot zu kaufen. Jeden Morgen gibt es eine obligatorische Scheibe Brot mit Quark und Marmelade, sie macht immer noch selbst ihren berühmten Kartoffelsalat, braucht nur für die schwierigsten Dinge morgens eine Pflege, macht gewissenhaft Übungen, um beweglich zu bleiben und schreibt ab und an noch Briefe und Karten mit ihren zittrigen Fingern. Jeder kennt und grüßt sie auf der Straße und für ihren Geburtstag mussten wir eine Liste führen, um einen Überblick über die gesamten Anrufe und Besuche zu behalten. Aber das weitaus wichtigste und beeindruckendste an dieser Frau ist nicht nur ihr wacher Verstand, ihr liebevolles Lächeln und ihre spannende Geschichte – es ist ihre Lebenseinstellung. Uroma Lilo ist die dankbarste Person, die mir je begegnet ist.

 

Jedes Mal, wenn ich sie sehe, höre ich sie mindestens fünf Mal den Satz „Ich bin ja so dankbar dafür, was noch geht und was ich noch kann.“ sagen. Und: „Das ist nicht selbstverständlich.“ Es ist ihr kleines Mantra und ich glaube, dass es eine bewusste Entscheidung, eine Angewohnheit von ihr ist, den Dingen des Lebens mit Dankbarkeit zu begegnen – und dass diese Haltung einen guten Teil dazu beigetragen hat, sie so alt werden zu lassen. Sie hätte beispielsweise jeden Grund für Bitterkeit und Groll über die Besetzung ihres Hauses gehabt – doch stattdessen sagt sie dazu nur stets, wie gut es war, dass die Amerikaner gekommen sind, da ihr Ehemann sonst vermutlich an seiner Krankheit gestorben wäre.

  

Halbleere Gläser gibt es in Uromas Leben nicht. Anstatt mit ihrer Abhängigkeit von anderen zu hadern, freut sie sich über so vieles, was sie „noch erleben darf“ und ich habe noch nie einen so alten Menschen zu besonderen Anlässen mit so viel Genuss Pizza, Schnitzel, Nudeln oder Torte essen sehen. (Wobei... vermutlich habe ich ohnehin noch nie einen so alten Menschen gesehen.)

 

Oft sagt sie uns, dass sie sich so freue, „dass wir uns so gut verstehen würden“ und wie schön es doch sei, dass sie mich noch kennenlernen dürfe – denn auch das sei alles überhaupt „nicht selbstverständlich“. Uroma Lilo ist außerdem eine treue Beterin: Nachts, wenn sie wegen ihres Alters nicht so gut schlafen kann, singt sie leise in Gedanken Gebetspsalmen („Laut singen kann ich ja nicht.“, lacht sie verschmitzt über sich selbst) und jeden Sonntag wählt sie sich in den Radiogottesdienst ein, den sie zu Fuß nicht mehr besuchen kann. Sie vertraut Gott in jeder Hinsicht und Lebenslage – auch, dass er schon seinen Grund haben wird, sie noch auf dieser Erde zu lassen, auch wenn sie selbst langsam müde wird. Für mich ist sie ein tolles Beispiel für Sprüche 16,31 aus der Bibel: Graues Haar ist ein prächtiger Schmuck, gefunden auf dem Weg der Gerechtigkeit. 

 

Lasst mich das Problem unserer Zeit mit diesem kleinen Beispiel verdeutlichen:

 

Was seht ihr? 

 

Einen schwarzen Punkt? Das stimmt. Aber habt ihr auch die große weiße Fläche bemerkt? Wir Menschen neigen dazu, immer über das, was fehlt, zu klagen und all das, was wir haben, zu übersehen. Doch diese Einstellung kann man ändern und Dankbarkeit ganz bewusst einüben. Ich wurde einmal aufgefordert, 100 Dinge aufzuschreiben, für die ich dankbar war.

 

100 Dinge. Das ist schon eine ganz schöne Menge.

 

Die ersten zwanzig waren noch recht einfach, ab da an wurde es ehrlich gesagt erst einmal sehr schwer, doch als ich bei Nummer 50 angelangt war, konnte ich plötzlich gar nicht mehr aufhören, zu schreiben – selbst, als ich die 100 längst erreicht hatte.

Man kann Dankbarkeit also einüben. Probiert es mal aus. Fangt morgens an: Damit, dass ihr überhaupt aufstehen könnt. Dass aus dem Wasserhahn nicht nur Wasser sondern auch noch warmes Wasser kommt. Und wofür wir alles dankbar sein können, wenn wir uns an den Frühstückstisch setzen... damit will ich gar nicht erst anfangen.

 

Wusstet ihr etwa, dass wir – gemessen an unserem Lebensstandard - zu den 2 wohlhabendsten Prozent der Weltbevölkerung gehören? Die meisten Menschen haben nicht einmal ein festes Dach über dem Kopf, geschweige denn sauberes, fließendes Wasser oder Strom. Es kann helfen, einmal einen Auslandsdienst mitzumachen um einen völlig anderen Lebensstandard zumindest zeitweise kennenzulernen. In Peru habe ich monatelang in einem Adobe-Haus aus Lehm wohnen dürfen: Oft ohne warmes, trinkbares Wasser, mit Türen und Fenstern, durch die ständig der Staub der Straße auf meinen Boden geweht wurde und natürlich voller giftiger Hausspinnen. Ich sage aber bewusst „dürfen“, weil mir dadurch die Augen dafür geöffnet wurden, wie gut es uns in Europa wirklich geht. Ich will mich auch nicht als Heldin darstellen. Das Wissen darum, nicht für immer unter diesen Umständen zu leben, machte die Erfahrung „spannend“ und sogar „erholsam“, aber ich weiß nicht, wie ich darüber denken würde, wenn dies über Jahrzehnte und viele Regenzeiten lang wirklich mein Haus wäre. Menschen, denen es so geht – genauso wie uns mit unserem hohen Lebensstandard - rät die Bibel das Folgende:

 

Seid allezeit fröhlich, betet ohne Unterlass, seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch. (1. Thessalonicher 5, 16-18)

 

Das Problem: Unter dem, was wir alles haben, leiden die anderen. Auch der ehemalige Papst kritisierte dies während einer Ansprache: „Während einige wenige üppig schlemmen, haben unheimlich viele kein Brot zum Leben.“ Und wir können mit diesem Wissen nun anscheinend entweder verzweifeln oder in eine ignorante Gleichgültigkeit hineinrutschen, um uns bloß nicht mehr damit beschäftigen zu müssen.

 

Für uns, die wir von Jesus lernen und bei ihm in die Lebensschule gehen, gibt es aber noch andere Antwort: Nehmt die Sachen nicht für selbstverständlich und vermehrt eure Freunde, indem ihr das, was ihr habt, teilt, denn Geben ist bekanntlich seliger als nehmen. (Apg. 20,35) Freigiebig sein fällt leichter, wenn man zufrieden ist, letzten Endes läuft jedoch jedes Mal alles auf die Entscheidung hinaus, an seiner Einstellung zu arbeiten. 

 

In Philipper 4, 12 - 13 schreibt Paulus: „Ob ich nun wenig oder viel habe, beides ist mir durchaus vertraut, und ich kann mit beidem zufrieden sein: Ich kann satt sein und hungern; ich kann Mangel leiden und Überfluss haben. Alles kann ich durch Christus, der mir Kraft und Stärke gibt."

 

Auch die Forschung kommt zu dem Schluss, dass Dankbarkeit die Heilung von Krankheiten begünstigt: Robert Emmons aus Kalifornien startete bereits 2003 gemeinsam mit Michael McCullough drei Studien, die mit Dankbarkeitsinterventionen arbeiteten.

 

Die Psychologen teilten in ihrer zentralen Studie 192 Probanden in drei Gruppen. Die eine sollte zehn Wochen lang in einem Tagebuch notieren, wofür sie Dankbarkeit empfand, die zweite, was in der jeweiligen Woche schlecht gelaufen war, und eine dritte Gruppe reflektierte neutral über ihre Erlebnisse. Nach zehn Wochen verglichen Emmons und McCullough die Ergebnisse, wobei jene, die das Dankbarkeitstagebuch geführt hatten, bei den psychologischen Befragungen messbar mehr Optimismus aufwiesen als die Probanden der anderen beiden Gruppen. Sie fühlten sich vital und verspürten mehr Lebensfreude. Körperliche Symptome wie Bauch- oder Kopfschmerzen, Schwindel oder Muskelverspannungen hatten sich reduziert, sie gingen seltener zum Arzt, schliefen länger und besser. Auch ihre Fitness war besser geworden, und sie trieben messbar mehr Sport als die Vergleichsgruppen. Wieder einmal bestätigt die Wissenschaft, was die Bibel vor über 2000 Jahren bereits vorschlug: Dankbarkeit scheint gesund zu sein!

 

Und ich will von Uroma Lilos Verhalten lernen und diese Kunst Tag für Tag neu einüben, um Jesus immer ähnlicher und dadurch immer liebevoller, geduldiger und freigiebiger zu werden.

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Kommentare: 2
  • #1

    Ann-Carolin (Montag, 22 Januar 2024 18:16)

    Direkt erstmal geheult ���

  • #2

    Sonja Eckert (Dienstag, 22 Oktober 2024 18:50)

    Liebe Elena, lieber David,
    es ist sehr sehr schön was ihr alles geschrieben habt, über diesen unsagbar wundervollen Menschen den ihr als Uroma haben durftet und immer im Herzen haben werdet.
    Es ist auch für mich eine Lebensbereicherung diese tolle Frau in ihrer großen Persönlichkeit/ großartigem Charakter kennengelernt haben zu dürfen und von ihrem strahlenden Blick aus ihren Augen, ihrer Herzlichkeit und ihrem Dank an das Leben sie in meinen Einnerungen zu haben.
    Ja, wenn ein Mensch stirbt ist es als würde eine Bibliothek verbrennen/ zusammenfallen und nur wer zugehört hat, weiß die Geschichten und einzelne Kapitel weiter zu erzählen.
    Ihr/ die Familie habt dies getan.
    Irene und Herbert haben alle Liebe und Kraft aufgetan, um ihre Herzlichkeit wieder zu spiegeln. Und das haben sie auch geschafft.

    Sie hat mir von ihrem Mann Walter erzählt und von dem gemeinsamen Aufenthalt in Norwegen. Das Bild an ihrer Wand ( gemalt von ihrem Mann) hat sie immer im Blick gehabt. Sie hat mir auch von den Medikameten, welche sie damals aufgetrieben hat für ihn erzählt und diese Dankbarkeit diese damals bekommen zu haben, stand in ihrem Gesicht.
    Sie ist und bleibt eine unglaublich starke Frau vor der ich meinen Hut ziehe.

    Ihre Liebe zur ganzen Familie und wie schön es ist Kinder um sich zu haben, hat sie ebenfalls immer erwähnt.

    Sie hat viel von Moni und Michael erzählt und von verschiedenen lustigen Situationen mit den beiden, als sie auf sie
    aufgepasst hat.

    Ich freue mich sie 2x zusammen mit Irene und Herbert im Auto zu Moni nach Gedern mitgenommen haben zu können.
    Sie sagte damals :" Danke, das Sie mich auch mitnehmen."
    Ich erwiderte darauf:" Danke, das Sie mir vertrauen."

    Ich könnte so viel mehr schreiben, jedoch bin ich mit meinen Gedanken an Sie bestimmt mit vielen Aussagen gleich wie andere und gehöre nicht in den engsten Kreis.
    Sie hat einfach einen sagenhaften, respektvollen, einmaligen und kraftvollen Eindruck bei mir hinterlassen, so daß ich dies hier einfach nieder geschrieben habe.
    Bin froh das ich sie dies hab persönlich wissen lassen in unseren Gesprächen. Auch wenn es nicht viele waren.

    In stiller Trauer
    Sonja Eckert